Die tiefen Laden in den Apotheken sind derzeit mitunter nicht gut befüllt.

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Mindestens jede sechste Person in Österreich war bisher direkt vom anhaltenden Lieferengpass bei Medikamenten betroffen. Das zeigt eine Marketagent-Umfrage, die bereits von Ende Jänner bis Anfang Februar durchgeführt wurde. 17 Prozent der 1.000 befragten Österreicherinnen und Österreicher zwischen 14 und 75 Jahren gaben an, selbst von den Engpässen betroffen zu sein. 14 Prozent kennen zumindest Betroffene im eigenen Haushalt und/oder 13 Prozent jemanden im engeren Umfeld. Für mehr als ein Drittel der Befragten (36 Prozent) stellt die Knappheit von Antibiotika, Schmerzmitteln und Co eine Bedrohung dar. In der Gruppe der Frauen machen sich sogar vier von zehn sehr oder eher große Sorgen deswegen, hieß es am Donnerstag in einer Aussendung von Marketagent.

Laut dem Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) sind derzeit 610 Medikamente nicht oder nur eingeschränkt lieferbar – eine Zahl, die bereits seit Monaten konstant hoch ist.

Davon betroffen sind nicht etwa hochpreisige und innovative Arzneimittel, die bei spezielleren Krankheiten zum Einsatz kommen – sondern hauptsächlich alltägliche Medizin, Massenware, wenn man so will: Antibiotika, Schmerzmittel, Fiebersenker. Besonders schwer ist es derzeit etwa, an Antibiotikasäfte für Kinder zu kommen. Aber was sind die Gründe für den Engpass, der ausgerechnet – und scheinbar paradox – einfache und billige Produkte betrifft?

1. Die gesundheitliche Situation

Auch wenn allmählich der Frühling beginnt – viele Menschen sind angesichts des immer noch kalten Wetters krank. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach Medikamenten. Ein besonders gewichtiger Faktor: Bis vor wenigen Wochen grassierten gleich drei Krankheitswellen parallel, Grippe, RSV und Corona. Derzeit ist die Grippe immer noch stark präsent; dazu kommen Kinderkrankheiten. Dass in der kalten Jahreszeit eine hohe Nachfrage nach Medikamenten herrscht, sollte allerdings keine Überraschung sein und für Engpässe sorgen. Doch – die aktuell hohe Nachfrage nach Medikamenten trifft auf eine kritische Situation auf dem Weltmarkt.

2. Die Situation auf dem Weltmarkt

"Lieferengpässe bei Medikamenten und Medizinprodukten sind kein spezifisch österreichisches, sondern ein globales Problem", teilt die Apothekerkammer mit. Billige Allerweltsmedizin, bei der der Patentschutz abgelaufen ist, wird inzwischen wegen der geringen Produktionskosten fast ausschließlich in Asien hergestellt, in Indien etwa oder China. Bei vielen Produkten mit Engpässen kommen die Wirkstoffe von dort, in Europa erfolgen lediglich die letzten Schritte in Form der Verarbeitung zu Tabletten oder Saft.

Aus Asien wiederum läuft die Versorgung immer wieder schleppend – ein Missstand, der bekanntermaßen nicht nur bei Pharmaprodukten für Debatten sorgt. Ein wichtiger Grund dafür sind Lieferverzögerungen infolge der Nachwirkungen der Corona-Lockdowns in China. Steht etwa ein Containerhafen still, ist die Versorgung mit Produkten für lange Zeit gestört – auch betreffend Medikamente. Aber auch Indien sorgt für Probleme: Das Land verhängte etwa 2020 wegen Corona eine Exportsperre für bestimmte Medikamente – die Folge war ein Paracetamol-Engpass in Europa. Ein ähnliches Problem gab es bei Thrombolytika, also Medikamenten gegen Thrombose, als einer der Marktführer in Europa wegen einer geplanten Kapazitätsausweitung seine Produktion pausierte.

3. Die fehlenden Maßnahmen in der EU und Österreich

Bisheriges Fazit: Eine hohe Nachfrage nach Medikamenten trifft also auf einen teilweisen Notstand in der weltweiten Produktion. Um solchen Problemen vorzubeugen, gäbe es Maßnahmen, beispielsweise eine staatlich vorgeschriebene Lagerhaltung bei bestimmten Medikamenten. Doch eben hier gehen Österreich und die EU zögerlich vor.

Der Pharmagroßhandel fordert seit Beginn der Pandemie ein Notfalllager für Medikamente in Österreich. Es solle "vielleicht 200 Produkte, die man nicht gut austauschen kann", umfassen, sagte Pharma-Großhandelsvertreter Andreas Windischbauer im vergangenen Dezember.

"Wir müssen die strategische Autonomie der EU mehr im Blick haben", meinte damals auch Wirtschaftskammer-Funktionärin Sylvia Hofinger gegenüber dem STANDARD. Es gelte, gesamteuropäisch zu planen, welche Produktionsbereiche nach Europa zurückzuholen seien und in welchen eine Bevorratung wichtiger Arzneien ausreiche. Hofinger fordert überdies einen "Pro-EU-Bonus", also einen Preiszuschlag bei Medikamenten, die in Europa hergestellt wurden.

Doch derartige Pläne werden erst langsam in die Realität umgesetzt. In der EU wird daran gearbeitet, den Informationsaustausch zwischen den Ländern zu verbessern, ebenso plant man Modelle der Bevorratung in den EU-Ländern. In Österreich soll immerhin im Jahr 2024 in Kundl in Tirol ein weiteres Antibiotikawerk eröffnet werden.

4. Die Sache mit den Generika

Würden Generika – also billige Nachahmepräparate, bei deren teureren Originalen der Patentschutz bereits ausgelaufen ist – helfen, die Situation zu verbessern? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Vertreter der Pharmaindustrie und die Ärztekammer sehen in Generika weniger eine potenzielle Lösung des Problems als einen Mitgrund. Der Preiskampf, der auch aufgrund der Generika heftig tobt, führe nämlich erst dazu, dass Produktionen ins billige Asien verlagert werden, argumentieren die Vertreter der Industrie gern.

Andere halten dagegen. Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hat vor kurzem – gegen den Widerstand von Ärztekammer und Pharmaindustrie – wieder einmal die sogenannte Aut-idem-Regelung ("aut idem" = lateinisch für "oder das Gleiche", Anm.) mit Wirkstoffverschreibung durch den Arzt und Auswahl des vorhandenen Medikaments durch die Apotheken befürwortet. Wenn also ein bestimmtes Medikament gerade knapp ist, lässt es sich immerhin auf ein Generikum umsteigen. (Joseph Gepp, 10.3.2023)