Verteidigungsministerin Klaudia Tanner mit ihrem Amtskollegen Boris Pistorius. Der Deutsche ist Schlüsselfigur bei Waffenlieferungen im Ukrainekrieg.

Klaudia Tanner konnte einem fast leidtun. Am Dienstag dieser Woche wollte die österreichische Verteidigungsministerin zu Mittag von Wien nach Stockholm fliegen. Dort begann am Abend ein informelles EU-Ministertreffen, zu dem der schwedische Ratsvorsitz jede und jeden eingeladen hatte, die oder der in Europa zum Ukrainekrieg militärisch etwas zu sagen hat. Da wollte Tanner dabei sein. Sie scheiterte aber zunächst an der Transportkapazität.

Als Auftakt war ein Dinner in ganz kleinem Kreis im Königsschloss vorgesehen. Aus Brüssel reiste Jens Stoltenberg, der Generalsekretär der Nato, an. Er traf im Vorfeld Premierminister Ulf Kristersson, um die letzten Hürden des Beitritts des bündisfreien Schweden zur transatlantischen Allianz aus dem Weg zu räumen. Bis zum Nato-Gipfel in Vilnius im Juli sollen die Schweden – wie auch die neutralen Finnen – beigetreten sein.

Konsequenzen ziehen, Schicksale abstimmen

Das würde auch auf die EU wirken, den Norden sicherer machen, indirekt auch Neutrale wie Österreich oder Irland. Im Zentrum der Gespräche stand aber der Krieg in der Ukraine, die EU-Hilfslieferungen mit Waffen und Munition, die eklatanten Mängel bei der Beschaffung, weil die Bestände in den Armeen der Gemeinschaft seit Jahrzehnten drastisch reduziert wurden. Seit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 hat sich "alles geändert" in der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es bleibt kein Stein auf dem anderen.

Ausnahmslos jedes Land muss daraus seine Konsequenzen ziehen, sein Schicksal mit den anderen abstimmen. Das ist der Grundtenor. Aus dem Team des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell heißt es, man müsse als Gemeinschaft endlich aufwachen. Und das bedeutet auch, dass Union und Mitgliedsstaaten gemeinsam mit der Rüstungsindustrie in Richtung "Kriegswirtschaft" umdenken müssen.

Der Druck steigt

Denn die strategische Lage in der Ukraine wird von den Militärstäben im Moment als besonders kritisch eingeschätzt. Russland attackiere die ukrainischen Verbände und die Zivilbevölkerung mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf eigene Verluste an Soldaten, heißt es. Tendenz steigend. Die Energie- und die Wasserversorgung werden systematisch bombardiert.

Da nicht nur die Nato mit US-Präsident Joe Biden, sondern auch die Europäische Union mit 27 Staats- und Regierungschefs inklusive Karl Nehammer der Regierung in Kiew jede mögliche Hilfe zugesagt haben, "so lange das nötig ist", steigt der Druck zu handeln. Im Kriegsfall verschwimmen in Europa zudem leise die Grenzen zwischen EU und Nato. Es gibt bald kaum noch EU-Länder, die gleichzeitig nicht auch der Allianz angehören.

In Zahlen: Österreich, Irland, Zypern und Malta haben gemeinsam nicht einmal 20 Millionen Einwohner. Aber 440 Millionen EU-Bürger leben in Nato-Staaten.

Stockholm war für zwei Tage Zentrum des europäischen Krisenmanagements. Aber Tanner, die sich "wirklich ärgert", wenn jemand Österreich als sicherheitspolitischen "Trittbrettfahrer" bezeichnet, konnte nicht dabei sein – zumindest nicht von Anfang an.

Leberkässemmel und Warnstreiks

Das kam so: Kurz vor dem Einsteigen in die Maschine der Austrian Airlines erhält sie die Meldung, dass sich der Flug wegen einer Betriebsversammlung der Belegschaft verzögere. Die Ministerin nimmt es gelassen. Ihr Adjutant tröstet sie mit der Lieferung einer Leberkässemmel. Nach einer weiteren Stunde des Wartens geht die AUA zu Warnstreiks über. Der Flug nach Stockholm wird abgesagt.

Tanner tritt den Rückzug ins Büro an, um Akten abzuarbeiten. Im Königsschloss in der schwedischen Hauptstadt wird sie von einem Botschafter vertreten. Erst am Abend kann sie schließlich gen Norden fliegen.

Was nebensächlich erscheint, ist nicht ganz unsymptomatisch für Österreichs Auftreten in der Welt. Und für die weitverbreitete Neigung in der Bevölkerung, zu glauben, dass das Land mit seiner Neutralität sich im Zweifel ohnehin eher raushalten sollte aus dem globalen Treiben. Dass selbst Schlüsselminister der Regierung wie auch der Kanzler in der Regel Linie fliegen "müssen" – auf die Gefahr hin, etwas Wichtiges zu verpassen –, ist ein Symbol. Es gibt keinen Regierungsjet.

Andere Liga

So etwas wie Tanner könnte ihrem Amtskollegen Boris Pistorius nicht passieren. Dem deutschen Verteidigungsminister steht, wie allen Schlüsselministern in Berlin, die Flugbereitschaft der Bundeswehr zur Verfügung, die sie rund um die Uhr an alle Orte der Welt transportieren kann. Das hat natürlich mit der Bedeutung Deutschlands zu tun, das in EU und Nato sicherheitspolitisch in einer anderen Liga spielt. Aber nicht nur. Auch kleinere EU-Staaten sind deutlich engagierter aufgestellt.

DER STANDARD

Das räumt auch Tanner ein. Das Bundesheer sei seit Jahrzehnten in der Ausstattung vernachlässigt worden. Es ärgert sie, so wie der Vorwurf der Trittbrettfahrerei. Sie will eine aktive Verteidigungsministerin sein, etwas bewegen, das Heer in allen Bereichen verbessern, auch und gerade wegen der Neutralität, die sie als nicht obsolet ansieht: "Wir beteiligen uns an 15 Militärmissionen im Ausland, mit 1200 Soldaten, im Verhältnis mehr als Deutschland oder Schweden." Österreichische Offiziere übernähmen in der EU Führungspositionen.

Schweden ist kein Vorbild mehr

Der Frage, ob Österreich, so wie Schweden, nicht doch besser gleich der Nato beitreten sollte, wie eine Gruppe von hundert prominenten Wissenschaftern und Politikern vor einigen Wochen in einem öffentlichen Aufruf forderte, weicht sie nicht aus. "Nein", sagt Tanner, "ich habe schon oft gesagt, gegen das Volk zu regieren ist generell falsch."

Es sei eben eine Tatsache, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung an der Neutralität festhalten wolle. Eine gewisse persönliche Skepsis klingt durch, wenn sie sagt, dass in der EU für ihren Geschmack zurzeit "alle fast nur über den Krieg, aber nicht über die Friedens-EU reden". Sie kämpfe jedenfalls vehement für mehr Budget, für eine bessere Ausstattung des Bundesheeres "in allen Bereichen". Ein wenig Sorge macht ihr der Umstand, dass es beim Nachwuchs von Soldatinnen und Soldaten Probleme geben könnte. Es kämen jetzt die geburtenschwachen Jahrgänge, viele Ältere gingen in Pension. Auch deshalb kündigte sie in Stockholm am Frauentag die Einführung eines freiwilligen Grundwehrdienstes für Frauen an. Darauf ist Tanner merkbar stolz. Sie ist im Kreis des EU-Verteidigungsrates eine von sechs Frauen im Ministeramt, sogar eine der Dienstälteren.

Neutralität kein Problem

Aber welche Rolle kann das kleine Österreich in der EU-Militärpolitik spielen? Ist die Neutralität vereinbar mit dem Umstand, dass die EU aus ihrer "Friedensfazilität", wie der Budgetposten seit dem Jahr 2018 heißt, Lieferungen von Waffen zur Verteidigung an die Ukraine finanziert, bisher 3,6 Milliarden Euro? Aus einem Geldtopf, in den auch Österreich anteilsmäßig einzahlt? Und die Nato?

In der stundenlangen Debatte der EU-Verteidigungsminister spielt das praktisch keine Rolle: Österreich ist sicherheitspolitisch mittendrin, aber doch nicht ganz dabei.

Die Neutralität stellt in den Augen der Partnerstaaten kein Problem dar, solange Vertreter aus Wien sich an das halten, was das Land bereits 1995 beim EU-Beitritt vertraglich zugesichert hat: Im Krisenfall steht Solidarität über der Neutralität. Samt Beistandspflicht.

"Volle Solidarität"

Das betont Tanner in ihrer Wortmeldung: "Volle Solidarität, auch gemeinsame Anschaffung von Munition", aber nur, wenn das auf nationalstaatlicher Ebene notifiziert wird. Das ist auch Nato-Staaten der EU nur recht, die ihre Entscheidungen nicht an EU-Institutionen abgeben wollen. Mit dieser Praxis können und wollen alle gut leben. Österreich enthält sich bei Beschlüssen zu Waffenhilfen "konstruktiv", wie in EU-Verträgen vorgesehen.

Und wie ist das mit dem Nato-Beitritt? Die Allianz lädt von sich aus niemanden ein. Sollte Österreich Mitglied werden wollen, kann es den Antrag stellen, würde auch freundlich empfangen werden. Der formelle Abschied von der Neutralität wäre zwingend, im Tausch gegen kollektive Sicherheit. Klar ist: Eine Entscheidung darüber können nur die Österreicherinnen und Österreicher selbst treffen. (Thomas Mayer, 11.3.2023)