Jeffrey Sonnenfeld will mit seiner Liste Druck auf Firmen erzeugen, Russland zu verlassen.

Foto: Christopher Capozziello

Bleiben oder nicht bleiben? Das ist die Frage, vor der viele westliche Unternehmen mit russischer Präsenz nach wie vor stehen. Selbst ein Jahr nach dem Angriff auf die Ukraine, der unvorstellbares Leid ausgelöst hat, sind sich viele nicht im Klaren, wie sie mit der unternehmerischen Zwickmühle umgehen sollen: Wer Russland verlässt, riskiert, enteignet zu werden, investierte Millionen zu versenken und Mitarbeiter im Stich zu lassen. Wer bleibt, zahlt den moralischen Preis, wird öffentlich geächtet. Schlechtere PR gibt es zurzeit kaum. Neben der moralischen Frage verkomplizieren juristische Probleme die Lage.

Die Frage, wie viele Unternehmen bisher wirklich abgezogen sind, hat einen unüblich harten Disput zwischen zwei akademischen Gruppen ausgelöst. Auf der einen Seite steht Jeffrey Sonnenfeld, Wirtschaftsprofessor der US-Eliteuni Yale. Ihm zufolge haben bereits mehr als 1000 Konzerne Russland verlassen. Aufmerksamkeit erregte er aber vor allem mit seiner "Hall of Shame". Darin listet er Konzerne auf, die nach wie vor in Russland tätig sind. Bekanntes heimisches Beispiel ist die Raiffeisen Bank International (RBI), die schon lange angibt, "alle Optionen zu prüfen", während ihr das Russland-Geschäft beste Zahlen beschert. Zwölf österreichische Namen stehen auf der Liste, darunter Agrana, Doka und Egger. Aktiv sind aber mehr, etwa Red Bull, Palfinger oder Backaldrin.

"Draufstehen will man da nicht"

Auf der Gegenseite gibt es eine Studie der Schweizer Universität St. Gallen, die besagt, dass weniger als neun Prozent der westlichen Unternehmen Russland verlassen haben. Bei österreichischen seien es gar nur vier Prozent. Aus Sicht der Schweizer betrachten die Amerikaner die Daten falsch. Die Amerikaner werfen den Schweizern wiederum vor, russischer Propaganda aufzusitzen. Fest steht, dass die beiden Studien den Verbleib in Russland unterschiedlich definieren. Für St. Gallen zählen nur Unternehmen als in Russland aktiv, wenn sie Kapitalbeteiligungen haben. In Yale qualifiziert man sich auch mit Lizenz- oder Franchiseverbindungen dafür.

Österreichs Unternehmen verlassen Russland besonders ungern meinen Fachleute.
Illustration: Fatih Aydogdu

Thomas Heidemann, Partner bei der Wirtschaftskanzlei CMS, hält von solchen Listen wenig. Eine subjektive Auswahl bestimmter Unternehmen sei das. Aber wie auch immer: "Draufstehen will man da nicht", sagt er. Der deutsche Rechtsanwalt ging in den 1990er-Jahren nach Moskau. Der Fall des Eisernen Vorhangs brachte europäische Geschäftsleute nach Russland, Heidemann beriet sie bei Investitionen. Das änderte sich vor einem Jahr schlagartig. Der Anwalt verließ Moskau, viele seiner Mandanten taten es im gleich. Jetzt unterstützt er sie bei ihrem "Exit".

Russland muss Verkauf zustimmen

Dass das alles andere als einfach ist – vor allem bei größeren Unternehmen –, ist längst klar. Johann Strobl, Chef der vielkritisierten RBI, formulierte es bei einer Aktionärsversammlung so: "Eine Bank ist kein Würstelstand, den man über Nacht zusperren kann." Es gebe aufsichtsrechtliche Vorgaben zu erfüllen, man habe Verpflichtungen gegenüber Kunden und eine "soziale Verantwortung" für rund 9300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Russland macht es westlichen Unternehmen seit Herbst zudem alles andere als leicht, sich zurückzuziehen. Moskau fürchtet, dass wichtige Unternehmen ihren Betrieb einstellen, dass das ausländische Kapital, das die russische Wirtschaft am Leben hält, abfließt. Zahlungen für verkaufte Unternehmen dürfen zwar noch ins Ausland überwiesen werden, seit September 2022 sind Verkäufe aber genehmigungspflichtig. Eine Regierungskommission, angesiedelt beim russischen Finanzministerium, muss ihre Zusage geben.

Russische Glücksritter als Käufer

"Ohne Bestätigung dieser Kammer geht gar nichts", betont Heidemann. Die Erfahrung zeige, dass Verkäufe zwar grundsätzlich genehmigt werden – alle Anträge des Wiener Büros von CMS wurden bisher akzeptiert. Der Verkaufspreis sei aber nicht frei vereinbar: Unternehmen müssen zum Teil zu 50 Prozent des Werts verkaufen. Basis der 50 Prozent sind von staatlich akkreditierten russischen Fachleuten ausgestellte Wertgutachten. Die Frage nach der Aussagekraft der Gutachten erübrigt sich, sagt Heidemann.

Raiffeisen steht derzeit besonders im Rampenlicht.
Foto: REUTERS/Tatyana Makeyeva

Schwierig gestaltet sich auch die Suche nach Käuferinnen und Käufern. Viele Interessenten scheiden schon deshalb aus, weil sie auf EU-Sanktionslisten stehen, andere westliche Unternehmen haben meist wenig Interesse an einer Übernahme. In der Praxis sind Management-Buy-outs (MBO) am häufigsten. Infrage kommen auch Geschäftspartner der Betriebe. Und dann gibt es noch die "Glücksritter mit viel Geld, die auf keiner Sanktionsliste stehen", sagt Heidemann. Ein wenig erinnert das an die Zeit Anfang der 1990er-Jahre, als vife Geschäftsleute die sowjetische Industrie billig aufkauften. Die Geburtsstunde der Oligarchen.

Treffen in Belgrad oder Istanbul

Ist ein Käufer gefunden, stellt sich nicht zuletzt die Frage der Umsetzung. "Mittlerweile ist es schwierig, eine Bank zu finden, die den Rückzug abwickeln darf", sagt der Wiener CMS-Anwalt Oliver Werner. Viele sind selbst sanktioniert, anderen ist die Sache zu heikel. Österreichische Unternehmen greifen meist auf die RBI zurück. Dazu kommen profanere Probleme. "Da es keine Flüge mehr nach Russland gibt, trifft man sich zum Verhandeln in Belgrad oder Istanbul."

Der Salzburger Kranhersteller Palfinger hat zwar die Verbindung zu seinen 1400 Beschäftigten in Russland weitgehend gekappt, "proaktiv" aussteigen will man aber nicht.
Foto: imago/ITAR-TASS

Zahlreiche Wirtschaftsethiker lassen erschwerte Rückzugsbedingungen nicht als Entschuldigung gelten. Mitarbeiter würden zu einem Spielball, diese könne man aber auch ohne laufendes Geschäft weiter bezahlen. Verbrannte Investitionen müsse man als Risiko einkalkulieren, wenn man sich einen instabilen Standort aussucht. Unternehmerisches Risiko sei außerdem der Grund, warum Milliardengewinne zugelassen werden, man dürfe Risiken nicht externalisieren.

Die Anwälte von CMS haben für ihre Mandanten jedenfalls noch kein allgemeingültiges Rezept parat. Am Ende bleibe auch in der Rechtsberatung Unsicherheit, sagt Anwalt Heidemann. "Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein." (Jakob Pflügl, Andreas Danzer, 13.3.2023)