Michelle Yeoh gewann den Oscar als beste Darstellerin in "Everything Everywhere All at Once".

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Die Oscarnacht ist geschlagen, als großer Gewinner ging der Überraschungshit "Everything Everywhere All at Once" über die Ziellinie. Dass der Film über die Waschsalonbesitzerin Evelyn Wang, gespielt von der nun Oscar-prämierten Michelle Yeoh, zu einem derartigen Publikumserfolg wurde und mittlerweile die meisten globalen Filmauszeichnungen der Geschichte abstauben konnte, muss sich für die Involvierten einigermaßen surreal anfühlen. In zahllosen Interviews schon vor den Oscars zeigten sich Cast und Regisseure vom Erfolg des Low-Budget-Streifens überwältigt.

(Jubel-)Szenen von der Oscar-Nacht
DER STANDARD

Von der Waschküche ins Multiversum

Surreal ist auch der Film. Die Hauptfiguren, allen voran Evelyn, springen darin von Paralleluniversum zu Paralleluniversum, wo sie andere Leben leben und andere Fähigkeiten und Jobs besitzen. Im Multiversum ist plötzlich alles möglich. Da wird die Waschsalonbesitzerin mit asiatischen Wurzeln zum Filmstar, verfügt über Martial-Arts-Fähigkeiten oder findet sich in einer Welt wieder, in der sie und ihre dortige Partnerin, gespielt von Jamie Lee Curtis, mit Hotdog-Fingern ihr Dasein fristen.

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Doch was steckt hinter dem Konzept des Multiversums, das vor "Everything Everywhere All at Once" auch von anderen Filmen und Büchern aufgegriffen wurde – zuletzt etwa auch vom Marvel-Streifen "Doctor Strange in the Multiverse of Madness"? Dass die Theorie der parallel existierenden Universen kein rein popkulturelles Phänomen ist, zeigen prominente Physiker wie Stephen Hawking, Brian Greene, Michio Kaku oder Max Tegmark, die sich alle auf die Seite der Multiversum-Theorie geschlagen haben.

Die Viele-Welten-Theorie

Die grundlegende Idee ist, dass neben dem uns bekannten Universum noch zahlreiche weitere Paralleluniversen existieren. Das Multiversum fasst diese Parallelwelten in ihrer Gesamtheit zusammen, was sich mathematisch komplex beschreiben lässt. So weit, so gut. Doch schon jetzt wird es kompliziert, denn dahinter steckt keine einheitliche physikalische Theorie, sondern verschiedene Varianten. Die wohl bekannteste ist die Viele-Welten-Theorie, die auf die Quantenphysik zurückgeht beziehungsweise auf einige ungelöste Fragen ihrer Grundlagen.

In einem Universum müssen sich Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis mit Hotdog-Fingern herumschlagen.
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Angefeuert wird die Multiversumsthese von merkwürdigen Überlagerungszuständen: Laut Quantenphysik befindet sich etwa ein Elektron an mehreren Orten zugleich. Und dennoch: Immer wenn gemessen wird, findet sich das Elektron an einem bestimmten Ort, nicht in einer Überlagerung mehrerer Aufenthaltsorte. Was bei einer Messung vor sich geht, lässt sich laut der gängigen Interpretation der Quantenphysik nicht beschreiben. Noch unangenehmer ist, dass sich dieser Ort nicht mit Sicherheit berechnen lässt. Das Elektron scheint sich spontan und rein zufällig zu entscheiden, wo es sich aufhalten will.

Physiker Hugh Everett

Dem Zufall ein Schnippchen zu schlagen, das war der Vorsatz des US-amerikanischen Physikers Hugh Everett, als er in den 1950er-Jahren seine Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik entwickelte. Everett gelang es tatsächlich, das zufällige Verhalten von Elektronen wegzuargumentieren. Allerdings handelte er sich im Gegenzug nicht weniger als eine unendliche Anzahl an Universen ein.

Folgt man Everett, ist unsere herkömmliche Vorstellung falsch, dass Möglichkeiten vor uns liegen, von denen jeweils nur eine Wirklichkeit wird. Vielmehr ist alles wirklich, was möglich ist – jedoch in unterschiedlichen Universen. Zwischen diesen parallelen Welten ist kein Informationsaustausch möglich, was auch der Grund ist, warum sich die parallelen Universen nicht beobachten lassen.

Was wäre, wenn wir Teil eines Multiversums sind, fragt "Everything Everywhere All at Once" und wurde mit sieben Oscars belohnt.
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Um Überlagerungszustände von mehreren Möglichkeiten zu erklären, ist es laut Everett so, dass sich das Universum fortwährend spaltet und dadurch mehrere Universen entstehen, in denen jeweils alle Möglichkeiten irgendwo wirklich sind. Möglichkeit und Wirklichkeit stehen nicht länger in Opposition zueinander, sondern alles, was im Einklang mit den Naturgesetzen möglich ist, ist auch wirklich.

Diese Vorstellung relativiert so manches davon, was wir glauben, über die physikalische Wirklichkeit herausgefunden zu haben. In den parallelen Welten existieren unzählige Versionen von uns Menschen – die, ohne voneinander zu wissen, jeweils ihr Leben leben. Und egal, was Sie sich vornehmen oder was Sie tunlichst vermeiden wollen: In irgendeiner Welt wird diese Möglichkeit Ihre Wirklichkeit.

Zugang in "Everything Everywhere All at Once"

Der Film "Everything Everywhere All at Once" spielt mit dieser Theorie. Dass die Personen Einblicke in die anderen Paralleluniversen bekommen und in ihre Parallelidentitäten schlüpfen können, ist einem Gerät und der darin verbauten Technologie zu verdanken. Dass die Filmmacher sich gar nicht lange damit aufhalten, wie das technisch wirklich funktioniert, und die Aktivierung über ein billiges Headset stattfindet, macht nicht zuletzt den Charme des kreativen Streifens aus, der das Multiversum verwendet, um das "Zu sich finden" der Hauptfiguren psychologisch und philosophisch im übertragenen Sinne in Szene zu setzen.

Doch lässt sich die Theorie bisher experimentell beweisen? Vertreterinnen und Vertreter schüren seit Jahren und Jahrzehnten immer neue Hoffnung, dass der Beweis unmittelbar bevorsteht. Bis jetzt haben sich diese Hoffnungen – zumindest in unserem Universum – nicht wirklich erfüllt. Gleichzeitig ist es auch ebenso schwer, die Theorie wissenschaftlich zu widerlegen. Wie der Kosmologe Paul Steinhardt einst in einem Aufsatz im Fachblatt "Nature" feststellte, könnte "kein Experiment eine Theorie ausschließen, die alle möglichen Ergebnisse zulässt".

In manchen Welten wären diese Oscars des Regieduos "The Daniels" auf den Boden gefallen.
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Geht es nach der Physikerin Sabine Hossenfelder, passt die Theorie vom Multiversum daher besser in die Popkultur als in die Physik: "Ich verstehe, dass die Theorie vom Multiversum in der Öffentlichkeit populär ist – es ist eine interessante Form von Gehirngymnastik", sagte sie bei einer Diskussion zum Thema. "Ich mag auch Filme, die mit der Idee spielen, dass es viele verschiedene Versionen von mir gibt, die in parallelen Universen ihr Leben leben. Das Multiversum ist gute Fiktion, wir sollten das aber nicht mit Wissenschaft vermischen."

Alle Macht dem Bagel!

Ob wissenschaftliches Gedankenexperiment oder reine Science Fiction: Den Schauspielerinnen und Schauspielern – neben Michelle Yeoh wurden auch Jamie Lee Curtis, Ke Huy Qan ausgezeichnet, Stephanie Hsu war nominiert – sowie dem ebenfalls prämierten Regieduo "The Daniels" und den Millionen Menschen, die der Film begeisterte, dürfte das herzlich egal sein. Und als kleiner Trost für diejenigen, die am Oscarabend leer ausgegangen sind: Wer weiß, ob sie in einem anderen Universum Sonntagnacht nicht gewonnen haben. Vielleicht mit einem ganz anderen Film. Alle Macht dem Bagel! (13.3.2023, Tanja Traxler, Martin Stepanek)