Im Gastblog schildert der Kulturanthropologe Mišo Kapetanović die Besonderheiten der queeren Szene auf dem Balkan.

Man mag sich scherzhaft fragen, ob der Balkan tatsächlich in Wien beginnt,¹ doch eines ist sicher: Die queere Balkan-Clubkultur beginnt hier. Als ein Hauptzentrum der Migration aus den Ländern des Balkans beherbergt Wien eine wachsende Community von queeren Menschen: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und queere Personen (LGBTQI). Jeden zweiten Samstag im Monat treffen sie sich mit anderen Balkanmusik-Fans auf der BallCanCan-Party, die derzeit im Opera Club stattfindet. Seit mehr als zwanzig Jahren feiert BallCanCan ungeniert zeitgenössischen Pop und Folk aus der Region, zelebriert Diven des Balkans und bietet einen Raum, in dem sich queere Menschen sicher fühlen und miteinander feiern können.

Die Musik auf dieser Party ist nicht die alternative Musik aus der Region, die im ehemaligen Ostklub – der 2015 geschlossen wurde – gespielt wurde, um zu zeigen, dass auch die Balkanländer Teil der globalen Szene sind, letztlich aber das Stereotyp beförderte, das das Monster namens Balkan-Beats hervorgebracht hat.² Auch handelt es sich hier nicht um die klassische Raveszene, wie man sie im Berliner Tresor oder im Belgrader Drugstore findet, der sich auch beim queeren Publikum großer Beliebtheit erfreut. Die Musik auf der BallCanCan-Party setzt sich überwiegend aus serbischem Turbofolk, der verwandten bulgarischen Tschalga sowie neueren bosnischen Hybriden aus Turbofolk und Raeggeaton – Balkaton – zusammen.

Kämpfen und Tanzen für Gleichberechtigung

Üblicherweise wird die zeitgenössische Geschichte der LGBTQI-Communitys des ehemaligen Jugoslawien als Geschichte des Kampfes um die Entkriminalisierung des Geschlechtsakts zwischen Männern (Slowenien, Kroatien und Vojvodina 1977, Bosnien und Herzegowina erst 2003), der relativ erfolgreiche Pride Paraden (Ljubljana 2001, Zagreb 2002, Sarajevo 2019), der Gleichstellung der Ehe (Slowenien ab 2022, eingetragene Partnerschaft in Kroatien 2014 und Montenegro 2021) und eventuell des Auftretens von offen queeren Vertretern und Vertreterinnen auf der politischen Bühne (Serbiens Premierministerin Ana Brnabić seit 2017) erzählt.³

Dabei gingen die allmähliche Entkriminalisierung und der anhaltende Kampf um die Gleichstellung der Ehe Hand in Hand mit dem individuellen Ringen um ein erfülltes Leben. Wenn es auf der Straße gefährlich wurde, wandten sich die Queers den Clubs zu, wo sie selbst sein konnten. In Slowenien gingen die ersten queeren Partys und Versammlungen mit der rechtlichen und politischen Entkriminalisierung einher.

Selbstorganisierte Szene

Ab 1984 organisierten die Mitglieder des slowenischen Kollektivs ŠKUC (Studentisches Kulturzentrum) Magnus-Partys, die von der Ästhetik der BDSM-Subkultur und den Werken von Tom of Finland inspiriert waren. Diese Erfahrungen beeinflussten die Musikszene, allen voran Bands wie Laibach und Borghesia, und sind in den Sammlungen und Werken von Marina Gržinić dokumentiert, die an der Wiener Akademie der bildenden Künste lehrt.

Demgegenüber zeigen die Beispiele von Zagreb und Belgrad, dass die Entwicklung der Clubszene alles andere als im Gleichklang mit der Liberalisierung verlief. In Zagreb, der Hauptstadt Kroatiens, gab es bis zu den sogenannten Bad-Boy-Partys ab 1997 keinen ausgewiesenen queeren Begegnungsort.⁴ In der serbischen Hauptstadt Belgrad erfolgte die Entkriminalisierung erst 1994, allerdings gab es trotz der grassierenden Homophobie des Milosević-Nationalismus und der allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft bereits seit den 1980er-Jahren queere Partys. 1997 eröffnete in Belgrad auch der erste queere Club (Club X). In anderen Orten des ehemaligen Jugoslawien, vor allem im Süden, in Städten wie Skopje, Prishtina, Podgorica oder Sarajevo fanden solche Partys in weitaus bescheidenerem, eher privatem Umfeld statt.

Verbündete in lokaler Folk- und Popmusik

Die Geburt der queeren Clubkultur fiel mit dem Aufkommen einer neuen Folk-Musik in den 1980er-Jahren zusammen, aus der sich ein Jahrzehnt später der Turbo-Folk entwickelte.⁵ Queere Räume und Tanzflächen kennen typischerweise zwei Arten von Musik: elektronische Musik mit dunklen und kantigen Beats oder aber leichtere Spielarten mit großen Pop-Hits US-amerikanischer und britischer Stars wie Cher, Celine Dion, Madonna, Britney Spears oder Lady Gaga. Auf dem Balkan aber sind diese Diven nur Gaststars am lokalen Pophimmel.

Alexis VanderCunt, Dragqueen-Diva und Autorin des Podcasts "Tetke" (die Tunten), bei der Pride 2021 in Belgrad.
Foto: REUTERS/Zorana Jevtic

Die Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen der frühen postjugoslawischen Zeit lehnten Turbo-Folk als zu traditionell, zu vulgär und letztlich zu "orientalisch" ab. Ihre Ohren waren auf westliche Musik und vermutlich liberale Werte ausgerichtet, einschließlich Unterstützung für queere Minderheiten.

Nur wenige Tage nach der gewalttätigen Belgrade Pride im Jahr 2001⁶, als viele Rock- und Alternative-Pop-Stars die Gewalt unterstützt hatten, war es Dragana Mirković, eine serbische und heute in Österreich lebende Folksängerin, die schwule Männer als ihre Fans anerkannte und begrüßte. 2010 hielt Jelena Karleuša – im Übrigen der Balkan-Star, dem Kanye West in den sozialen Medien folgt – eine Rede auf der Belgrade Pride und schrieb mehrere Zeitungsartikel zur Unterstützung der Veranstaltung.

Die kroatische Sängerin Severina Vučković unterstützte sowohl die Pride-Paraden in Zagreb als auch in ihrer Heimatstadt Split und wurde dafür im Internet heftig beschimpft.

Eine weitere Persönlichkeit im Kampf für Gleichberechtigung ist der bulgarische Tschalga-Royalty Azis. Er ist seit Anfang der 2000er-Jahre offen schwul, trägt Kleider und Highheels ebenso wie Cowboystiefel. 2006 heiratete, er seinen Ehemann obwohl es die bulgarische Gesetze nicht erlaubte. Außerdem sang er 2011 lautstark gegen Putin und Homophobie in Russland, lange bevor dies im restlichen Europa ein Thema war.⁷

Divas und Drag

Heute erkennen Pop- und Folkstars das LGBTQI-Publikum als integralen Bestandteil ihrer Fangemeinde an und sprechen vom Erfolg ihrer Singles, wenn diese in den queeren Clubs und Bars gespielt werden. Folk-Diven der neueren Generation sind aktive Teilnehmerinnen der Paraden. 2017 führte die Belgrade Pride die Rolle der "Patin der Pride" (Kuma Prajda) ein, die einer Person zuerkannt wird, die die Community über Jahre hinweg unterstützt und zu deren Sichtbarkeit beigetragen hat. Es gibt jedoch noch ein andere Art von Patin, die aus den queeren Räumen hervorgegangen ist und sich gesellschaftlich mit und für die Community einsetzt.

Drag-Performer Dragana Gabanna und Ostroga Mi untergraben die von serbischen Nationalisten verwendeten Gesten durch Übertreibung. Das Video ist in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch.

So erlebt die Region seit Mitte 2010 den allmählichen Aufstieg der Dragqueen-(und Dragking-)-Szene. Im Gegensatz zu musikalischen Vorlieben, die sich auf der Suche nach lokalen Wurzeln und regionaler Identität entwickelten, entstand die Drag-Szene im Austausch mit westlichen (US-amerikanischen) Kunst- und Unterhaltungspraktiken und Performances und sprang zwischen lokalen, globalen oder rein erfundenen Einflüssen hin und her.⁸

Das in Zagreb ansässige Kollektiv "House of Flaming" tritt überall im ehemaligen Jugoslawien auf, während die Belgrader Szene etwa 50 bis 75 aktive Performerinnen zählt. Viele der jüngeren Stars der Drag-Szene in Belgrad wie Kvarcna Ruža stoßen mit Performances, die ähnlich denen in der Tokyo Boom Bar in Wien gesehen werden können, an die Grenzen von Drag.

Über Grenzen hinweg vernetzt

Die nationalen Drag-Szenen des ehemaligen Jugoslawien sind durch Festivals wie DRAGram und Queer Zagreb sowie internetbasierte Plattformen wie Dragoslavia miteinander verbunden. Diese Veranstaltungen und Plattformen bieten jüngeren und marginalisierten Dragqueens sowie etablierten Künstlern und Künstlerinnen eine Bühne. Die aktuelle Generation von Queens bringt ihre Stimme außerhalb des Clubs zum Ausdruck: in Youtube-Webserien, Podcasts, Radiosendungen und auch auf der Universität. (Mišo Kapetanović, 15.3.2023)