Bereits vor zwei Jahren beklagten 78 Frauen der Tamedia-Redaktionen in einem offenen Brief sexuelle Belästigung, anzügliche Sprüche und fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit durch die überwiegend männlichen Vorgesetzten.

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Zürich – "Wenn sich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in der Schweiz weiter verschärft, kann dies dramatische Folgen haben. Deshalb muss die Politik jetzt handeln", forderte der Chefredakteur des größten Schweizer Boulevard-Blattes Blick am Samstag unter dem Titel "Wohnen ist ein Menschenrecht". Es war der vorerst letzte Leitartikel Christian Dorers – diesen Montag musste Dorer eine sechsmonatige Auszeit antreten, und ob er je wieder zurückkehren wird auf den Chefsessel bei dem reichweiten- und meinungsstarken Blatt, ist fraglich.

Der 48-jährige Dorer habe möglicherweise "gegen den Code of Conduct der Ringier AG verstoßen. Im Raum stehen Vorwürfe von bevorzugter Behandlung einer bestimmten Mitarbeitenden-Gruppe und eine zu wenig klare Differenzierung von privat und Geschäft", teilte der Ringier-Verlag letzten Mittwoch etwas kryptisch mit.

Vorliebe für junge, gutaussehende Männer

In der Konkurrenzpresse und in den Social-Media-Networks wird darüber spekuliert, dass Dorer über seine branchenweit offenbar seit Jahren bekannte Vorliebe für junge, gutaussehende Männer gestolpert sei. Es ist dabei nicht von sexueller Belästigung die Rede, sondern der Blick-Chef habe sich mit diesen ihm nahestehenden Männern auch privat getroffen, sei gar mit einigen von ihnen in die Ferien verreist und habe ihre Karrieren gefördert, während er andere Angestellte und insbesondere Frauen eher ignoriert habe.

Kurz zuvor hatte sich Ringier vom früheren Blick-Chefredakteur und heutigen Co-Chef der Zeitschrift Interview, Werner de Schepper, getrennt. Gegen den 58-Jährigen hatte der Tages-Anzeiger vom Konkurrenzverlag Tamedia vor sechs Jahren Vorwürfe wegen sexueller Belästigung erhoben, die aber nie zu strafrechtlichen Folgen führten.

Vorwürfe von Mobbing und sexueller Belästigung

Dass die beiden prominenten Journalisten, für die die Unschuldsvermutung gilt, gerade jetzt gehen mussten, ohne eine erneute und gründliche Klärung der Vorfälle, das dürfte eine Folge eines anderen aufsehenerregenden Abgangs sein: Finn Canonica, der langjährige Chefredakteur beim Magazin, der renommierten Wochenend-Beilage des Tamedia-Verlages, wurde im Februar von der ehemaligen Magazin-Redakteurin Anuschka Roshani im deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit massiven Vorwürfen von Mobbing und sexueller Belästigung konfrontiert. Diese reichten zurück bis ins Jahr 2014. Neben groben und anzüglichen Sprüchen habe Canonica die Manuskripte der deutsch-persischen Journalistin Roshani zudem mit Hakenkreuzen versehen, wenn diese in ihren Texten allzu hochdeutsche Ausdrücke verwendet habe.

Canonica und Roshani verließen das Magazin im Sommer 2022 – doch erst die Publikation im Spiegel löste eine Lawine an öffentlicher Berichterstattung zur MeToo-Thematik und zum Betriebsklima in Schweizer Redaktionen aus, und dies bewog offenbar auch die Verantwortlichen bei Ringier, bei Dorer und de Schepper durchzugreifen (das Medienhaus selber hat die Vorgänge bisher nicht über die Medienmitteilungen hinaus kommentiert).

Ein interner Untersuchungsbericht hat Canonica zwar mittlerweile von einem Teil der Vorwürfe entlastet. Anderes aber, etwa die Hakenkreuze, bleibt unbestritten.

Chance auf Neuanfang

"Neue Kultur ersetzt alte Chefs", unter diesem Titel kommentierte dies die Journalistin Aline Wanner in der NZZ am Sonntag. "Schweizer Medienhäuser wenden sich gerade von unangenehmen Vorgesetzten ab und einer positiven Betriebskultur zu." In dieses Bild passen auch die gerade erst bekanntgegebenen Rochaden an der Spitze des Tages-Anzeigers: Bei der Zeitung übernimmt mit Raphaela Birrer eine 40-jährige Frau die Nachfolge von Chefredakteur Arthur Rutishauser (58).

Offener Brief bei Tamedia

Auch wenn diese Veränderung mit einem strukturellen Umbau an der Spitze der Tamedia-Redaktionen begründet wird, ist das zeitliche Zusammentreffen all dieser Ereignisse doch bemerkenswert. Denn im Hause Tamedia steht es offenbar mit dem Betriebsklima nicht zum Besten. Vor zwei Jahren beklagten 78 Frauen der Tamedia-Redaktionen in einem offenen Brief an die Verlagsführung sexuelle Belästigungen, anzügliche Sprüche und fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit durch die überwiegend männlichen Vorgesetzten – der STANDARD berichtete. Man kann den Wechsel an der Tages-Anzeiger-Spitze deshalb durchaus als späte Reaktion auf diesen Brief lesen. (Klaus Bonanomi, 14.3.2023)