Ziemlich genau 72 Stunden hat es gedauert, bis Kanzler Karl Nehammer zur Schadensbegrenzung ausrücken musste. Nach seiner vieldiskutierten Rede zur Zukunft der Nation vom Freitag habe er am Montag mit Vizekanzler Werner Kogler ein langes Gespräch geführt, berichtete Nehammer zu Wochenbeginn bei einem Kanzlergespräch mit Journalisten.

VIDEO: Nach der Rede zur Zukunft der Nation von Bundekanzler Karl Nehammer hagelte es Kritik vom Koalitionspartner. Die Zusammenarbeit ist laut Nehammer aber "nach wie vor sehr gut".
DER STANDARD

Ausschlaggebend für die türkis-grüne Aussprache dürfte der am Wochenende ausgebrochene Streit über Sozialleistungen für Zugewanderte gewesen sein. Geht es nach Nehammers Plänen, sollen nur jene Migrantinnen und Migranten voll bezugsberechtigt sein, die durchgehend fünf Jahre im Land leben, "und, wenn nicht, nur die Hälfte" erhalten.

Der Applaus seiner Parteifreunde war dem ÖVP-Chef damit gewiss. Genauso wie heftige Kritik von Fiskalratschef Christoph Badelt, der Asylkoordination und dem Koalitionspartner. Zwar reagierten die Grünen erst nach einer Schrecksekunde, dafür kam Gegenwehr gleich von mehreren Seiten: aus dem Parlamentsklub, von der grünen Parteizentrale und von Sozialminister Johannes Rauch.

Nach den Meinungsverschiedenheiten um die Kürzung von Sozialleistungen für Zugewanderte trafen sich Kogler und Nehammer am Montag zur Aussprache.
Foto: APA/Eva Manhart

Nehammer in der Doppelrolle

In das ohnehin schon knarzende Getriebe der Koalition fegte der Streit eine große zusätzliche Ladung Sand. Rückt damit das vorzeitige Ende von Türkis-Grün näher? Oder können sich die beiden konträren Partner doch wieder zusammenraufen, des vielzitierten "Besten aus beiden Welten" wegen?

Fest steht: Das gegenwärtige Gebaren von ÖVP und Grünen lässt gewisse Parallelen zu Wahlkampfzeiten erkennen – auch wenn die nächste Nationalratswahl planmäßig erst im Herbst 2024 stattfindet. Sei es das Senden von Botschaften an die Kernwählerschaft, das Umgarnen neuer Anhänger oder die Abgrenzung zu anderen Parteien: All dieses Wahlkampf-Grundrepertoire fuhr Nehammer in seiner Rede auf. In deutlich kleinerem Maßstab hatten das nur einen Tag zuvor die Grünen versucht – mit ihrer neuen Frühlingskampagne.

Dass Nehammer bereits über den Herbst 2024 hinausdenkt, gab er beim Kanzlergespräch sogar offen zu: Er habe die Rede eben bis 2030 angelegt und nicht für die laufende Legislaturperiode. "Meine Vision geht bis 2030." Die Zukunftsrede finanziert und zu ihr eingeladen habe die Volkspartei, Nehammer sei als Bundesparteiobmann dort gewesen. Nachsatz: "Ich bin nun einmal beides: Bundesparteiobmann und Kanzler."

Kleine Gruppe betroffen

Noch eine Parallele zu Wahlkampfzeiten tut sich auf: Die praktische Umsetzung von Nehammers Vorstoß bei den Sozialleistungen dürfte sich als schwierig erweisen. Aufgrund von EU-Recht kämen Kürzungen nur für einige wenige Gruppen infrage, sagte Europarechtsexperte Franz Leidenmühler dem Ö1-"Mittagsjournal": etwa für Personen aus Drittstaaten, die sich nicht im Asylverfahren befinden und keine Angehörigen von EU-Bürgerinnen oder EU-Bürgern sind und nicht in Österreich arbeiten.

Für subsidiär Schutzberechtigte gebe es hingegen eine Mindestunterstützung in Bereichen wie Einkommen, Krankheit oder Wohnen, hier habe eine "Gleichbehandlung mit Inländerinnen und Inländern zu erfolgen". Auch Drittstaatsangehörige, die in Österreich arbeiten, hätten ein Recht auf volle Sozialleistungen.

Dazu kommt: Welche Leistungen gekürzt werden sollen, blieb bis dato unklar. Laut dem Verfassungsrechtsexperten Heinz Mayer ist etwa das Arbeitslosengeld eine Versicherungsleistung, die man aufgrund eines zu kurzen Aufenthalts nicht kürzen könne. Sozialrechtsexperte Wolfgang Mazal sieht in der angedachten Kürzung sogar einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention.

Kogler hält sich heraus

Was vorgezogene Neuwahlen angeht, kalmieren ÖVP und Grüne – trotz aller Spannungen. Nehammers Ziel sei es, die vollen fünf Jahre mit den Grünen zu regieren, betonte er. "Das war immer mein Ziel. Das Beste aus beiden Welten ist aus meiner Sicht herzeigbar." Dass es Unterschiede in den Auffassungen gebe, sei klar: "Wir sind keine Einheitspartei, wir sind zutiefst unterschiedliche Parteien."

Eigene Standpunkte herauszustreichen ist für Nehammer legitim – das würden auch die Grünen tun, etwa wenn Parteichef Kogler für Vermögenssteuern eintrete. Dieser hatte sich aus den Debatten im Nachgang der Kanzlerrede bewusst herausgehalten. Auch am Montag wollte sich dazu nicht äußern.

Aus seinem Büro klingt aber durch: Großes Feuer am Dach der Koalition dürfte man nicht sehen. Mit ein Grund ist wohl die Aussprache mit Nehammer. Laut dem Kanzler haben die beiden dabei abgestimmt, welche Forderungen aus dessen Rede im gemeinsamen Interesse liegen und auch gemeinsam vorangetrieben werden sollen: die Zweckwidmung der Wohnbauförderung, eine leichtere Anerkennung der Ausbildung ausländischer Pflegekräfte, kostenlose Meisterprüfungen, der Ausbau der Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr – um nur einige zu nennen. Damit bis 2030 zusätzlich 800 Kassenärzte zur Verfügung stehen, werde der grüne Gesundheitsminister Rauch einen Gipfel einberufen, hieß es.

Schreckgespenst FPÖ

Eine wieder relativ entspannte Stimmung war am Montag auch aus grünen Ministerkabinetten und in der Parlamentsfraktion wahrzunehmen. Dort sieht man das Koalitionsprogramm als Richtschnur – und beruhigt sich mit pragmatischen Überlegungen: "Ein Sprengen der Koalition kann sich die ÖVP bei ihren derzeitigen Umfragen nicht leisten", sagt ein Abgeordneter.

Tatsächlich verloren die Türkisen in der jüngsten Sonntagsfrage von Unique Research leicht und kämen derzeit auf nur 22 Prozent der Stimmen. Aus grüner Sicht sprechen die Umfragen auch nicht für Neuwahlen: Sie stagnieren bei zehn Prozent. Profiteur eines türkis-grünen Hinschmeißens wäre klar die FPÖ: Mit ihren aktuell 31 Prozent ist und bleibt sie derzeit das stärkste Argument für Türkis-Grün. (Stefanie Rachbauer, Rainer Schüller, Martin Tschiderer, 13.3.2023)