Die Kibbutz Contemporary Dance Company 2 führt Rami Be’ers Stück "360 °" beim Festival Tanztage in Linz auf.

Eyal Hirsch

Junge Leute im Spannungsfeld einer sich immer stärker aufladenden Zeit. Ihre vermeintlichen Vorwärtsbewegungen entpuppen sich als Rückschritte, während die Spiralen unlösbarer Konflikte immer enger werden und schneller um sich selbst rotieren. Kein Wunder, dass der israelische Choreograf Rami Be’er sein Stück 360 ° seit beinahe 15 Jahren im Repertoire der Kibbutz Contemporary Dance Company 2 hält. Denn diese 2009 entstandene Arbeit, mit der das Linzer Tanztage-Festival im Posthof gerade seinen Auftakt präsentierte, hat bis heute an Aktualität, Brisanz und Relevanz zugelegt.

Der nüchterne Titel bezieht sich offenbar auf den in den Tanz eingespielten Song Salamandrina (1993) der deutschen Band Einstürzende Neubauten, in dem ein lateinisches Palindrom zitiert wird: "In girum imus nocte et consumimur igni. – Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt."

Daraus hat der französische Situationist Guy Debord den Titel für einen seiner legendären Experimentalfilme (1978) und ein später publiziertes Buch gemacht. Die Neubauten singen: "Geschichte ist bekannt, nur immer wieder, nimmer, nimmer nichts dazugelernt."

Wenn diese Einsicht deutschsprachig in einem israelischen Tanzstück auftaucht, ist das mehr als bloß ein launiges Zitat. In der Nachwuchs-Company 2 von Kibbutz tanzen für Rami Be’er sechs Frauen und drei Männer dieses Umherirren in der gespenstisch flackernden Nacht, zwischen Übermut, militärisch anmutender Zackigkeit und Überreiztheit.

Dass sich 360 ° seit seiner Uraufführung verändert hat, zeigen nicht zuletzt die Kostüme: Wurden anfangs noch bunte Blusen zu den schwarzen Kniehosen getragen, waren es später gestreifte oder einfärbige Hemden in gedeckten Tönen – jetzt tanzt die Company, die ihre aktuelle Tournee in Deutschland fortsetzt, in weißen Hemden mit Applikationen, die wie Identifikationscodes aussehen.

Neubeginn als Youngsters

Jugendlichkeit ist auch Thema im nächsten Gastspiel bei den Tanztagen am 23. März, in dem Stück Ima der italienischen Choreografin Sofia Nappi und ihrer Compania Komoko. Da maskieren sich junge Tänzerinnen und Tänzer als Alte mit Gummifalten, weißen Perücken und aus der Zeit gefallener Kleidung. Die heiteren Greislein sind fähig, sich durch einfache Demaskierung radikal zu verjüngen: Sie verwandeln sich in ernste Youngsters, die einen Neubeginn versuchen.

Dieser Diskursstrang zieht sich am 27. April weiter, wenn mit der Kanadierin Louise Lecavalier der Star des Festivals im Posthof auftritt. Die ehemalige Sensationstänzerin bei La La La Human Steps zeigt als nunmehr 64-Jährige mit ihrem Solowerk Stations die Quintessenz ihrer Laufbahn. Aus der Tanzathletin der 1980er-Jahre ist eine Kämpferin geworden, die auf die Würde eines alternden Körpers pfeift und lieber die Härten biografischer Umbrüche auf die Bühne bringt.

Aus dem Athletischen beim Tanz in die Sphären des neuen Circus entrückt sich ein paar Tage später die australische Gruppe Gravity & Other Myths mit ihrem artistischen Zauberspiel Out of Chaos. Auch die junge Choreografie findet ihren Platz bei den Tanztagen – im Rahmen des Tanztage-Labors mit Raphael Miro Holzers Dialog in Blau und Rosalia Wankas Asymmetrical Encounters.

Diese Arbeiten werden sowohl von den Lasten und Lüsten des Jungseins zwischen Narrenfreiheit und Disziplin als auch der schwierigen Orientierung im Flackern sogenannter Weltbilder befeuert.

Über dem gesamten Tanztage-Programm steht der – "in girum imus" und "immer wieder nichts dazugelernt" – generationenübergreifende Anspruch, es doch bitte besser zu machen als die Alten. Treffend, denn die Asymmetrien zwischen Jungen und Alten könnten nicht größer sein als jetzt. Wenn der umnachtete Teil der Letzteren gerade Brände anfacht, in deren Inferno vor allem die Ersteren – diffamiert als Kanonenfutter, "Klimakleber" und "Terroristen" – abgefackelt werden. (Helmut Ploebst, 15.3.2023)