Im Rothwald stehen viele Jahrhunderte alte Bäume. Sie können mindestens sechsmal so alt wie in Nutzwäldern werden.
Foto: Imago/Gubisch, Hans Glader

So sieht kein anderer Wald in Österreich aus: Die jahrhundertealten Buchen, selbst schon riesig, werden an vielen Stellen von noch riesigeren Fichten überragt. Am Boden liegen umgestürzte, von Baumschwämmen und Pilzen besiedelte Stämme in verschiedenen Stadien der Verrottung und bilden selbst oft schon wieder den Untergrund für neue Keimlinge. Hier, im Rothwald im niederösterreichischen Mostviertel, wird nicht geschlägert, nicht ausgeräumt, hier werden keine Wege frei gehalten. Stattdessen dürfen der Wald und seine Bewohner machen, was sie wollen.

Das ist aber nicht die einzige Besonderheit. Denn bei dem faszinierenden Ort handelt es sich um Österreichs einzigen Urwald und einen der letzten Urwälder Europas. "Urwald" deswegen, weil er sich ohne Einflussnahme des Menschen entwickelt hat – und das seit seiner Entstehung am Ende der letzten Eiszeit. Tatsächlich sind hier eine Menge Pflanzen, Pilze und Tiere beheimatet, die anderswo kaum noch Lebensraum finden. Menschen hingegen müssen weitgehend draußen bleiben.

Der Wald als Ressource

Schon früh in der Menschheitsgeschichte und erst recht seit der Industrialisierung lieferten Wälder wertvolle Ressourcen und wurden entsprechend intensiv genutzt. Das Holz der Bäume diente als Wärme-, Kraft- und Energiequelle sowie als Ausgangsmaterial für zahlreiche Erzeugnisse. Außerdem bereicherten Früchte und Tiere des Waldes den Speiseplan der Menschen, die zusätzlich ihr Vieh zum Weiden in den Wald schickten.

Moose, Flechten, Pilze zieren die mächtigen Stämme im Urwald.
Foto: Imago/Gubisch, Hans Glader

Eisenerzeugung und Salzgewinnung taten das ihrige zum hohen Verbrauch an Holz, sodass der dringend benötigte Rohstoff Mitte des 19. Jahrhunderts anfing, spürbar knapp zu werden. Erst das 1853 erlassene Reichsforstgesetz setzte dem Raubbau ein Ende. Zu diesem Zeitpunkt waren von den ehemals geschlossenen Wäldern nur noch ein paar Flecken übrig.

Einer davon war das Gebiet, in dem der Rothwald liegt. Zuerst gab es dort mehr als 450 Jahre lang Streitigkeiten über die Nutzungsrechte zwischen den Klöstern Gaming und Admont. Nach der Auflösung des Klosters Gaming unter Josef II. im Jahr 1782 wurden dann doch große Flächen abgeholzt, ehe der Bankier Albert Rothschild das Land 1875 erwarb und verfügte, die verbliebenen rund 400 Hektar Urwald so zu belassen, wie sie waren.

Heute ist der Rothwald nicht nur der einzige Urwald Österreichs, sondern auch der größte Urwaldrest Mitteleuropas. Umgeben ist er vom Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal, das auf niederösterreichischer und steirischer Seite jeweils rund 3500 Hektar umfasst.

Exkursionen in den Urwald

Wer das Gebiet besuchen möchte, kann an einer der jährlich circa hundert Exkursionen teilnehmen. Bei etwa einem Viertel bekommt man auch einen Einblick in den Urwald. Für mehr Besucherinnen und Besucher ist die Fläche zu klein und der Lebensraum zu sensibel. Einblicke in die Natur des Wildnisgebiets und des Rothwaldes bietet aber auch das 2021 in Lunz am See eröffnete Haus der Wildnis, das den besonderen Wald unter anderem mit moderner Technologie wie Virtual-Reality-Brillen und 180-Grad-Kino erlebbar macht.

Riesiges Wurzelwerk wird eins mit dem Waldboden, natürliche Höhlen entstehen dadurch.
Foto: Imago/Gubisch, Hans Glader

Dass man mit Besuchen vor Ort restriktiv ist, hat einen einfachen Grund. Im Wildnisgebiet und erst recht im Rothwald lässt man der Natur ihren Lauf: "Wir haben keine Ziele, wie das Gebiet sich entwickeln soll", betont Förster und Wildbiologe Reinhard Pekny, der für das Naturraummanagement des Gebiets zuständig ist. "Die Prozesse im Wald laufen ab, und es wird daraus, was daraus wird. Wir versuchen aber, daraus zu lernen."

Auswirkungen des Klimawandels

Tatsächlich macht sich der Klimawandel laut Pekny seit der Jahrtausendwende deutlich bemerkbar: Seit dem Jahr 2000 gab es im Gebiet nicht nur die acht wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen, sondern auch die vier schneereichsten. Schnee im Winter mache den Bäumen nichts, wohl aber im Frühjahr, wie es in letzter Zeit immer häufiger werde. Denn zu dieser Zeit ist der Schnee so nass und schwer, dass er reihenweise Bäume knickt. 2019 erlitten zwei Drittel aller Jungbäume im Rothwald dieses Schicksal.

Aber auch ohne Schnee überlebt von den hunderttausenden Keimlingen nur eine vergleichsweise winzige Zahl. Verantwortlich dafür sind neben dem rauen Bergklima Tiere, die sowohl die Samen als auch die daraus treibenden Jungbäume fressen. Und das, obwohl die Bäume in unregelmäßigen Abständen sogenannte Mastjahre durchlaufen, in denen sie ungewöhnlich viele Samen produzieren.

Wasser, Steine, Bäume. Alles darf kreuz und quer liegen, fließen, sich einen Platz suchen.
Foto: Imago/Gubisch, Hans Glader

Wie Georg Gratzer vom Institut für Waldökologie der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) und Ursula Nopp-Mayr vom Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft der Boku im Rahmen eines FWF-Projekts im Wildnisgebiet herausfanden, vertilgen vor allem Mäuse enorme Mengen an Samen und Keimlingen.

"In Mastjahren fallen im Herbst rund 300 Buchensamen pro Quadratmeter an", erklärt Gratzer, "aber im nächsten Frühjahr sind nur noch 50 Keimlinge pro Hektar übrig. Die Mäuse eliminieren fast alles." Im nächsten Jahr, das kein Mastjahr mehr ist, brechen die Mäusepopulationen wieder zusammen, sodass die Samen in den normalen Jahren bessere Überlebenschancen haben. Laut Gratzer könnte das eine Erklärung für die evolutionäre Entstehung der Mast sein.

Jahrhundertealte Bäume

Die Jugendphase im Wildnisgebiet ist schwierig, doch wenn die Bäume sie erfolgreich überstehen, können sie sehr alt und sehr hoch werden: bis zu 550 Jahre und 40 Meter im Falle der Buche, mehr als 600 Jahre und 60 Meter im Falle der beiden anderen dominierenden Baumarten, Tanne und Fichte. In einem Wirtschaftswald hingegen werden diese Bäume im Alter von etwa 100 Jahren und mit 30 Metern Höhe geschlägert.

Im Rothwald und dem umgebenden Wildnisgebiet hingegen dürfen sie nicht nur ungehindert leben, sondern auch sterben: Im Unterschied zum Wirtschaftswald, wo tote Bäume aus forsthygienischen Gründen gewöhnlich entfernt werden, verbleiben sie hier an Ort und Stelle.

Im Haus der Wildnis kann man den Urwald verstehen, ohne in ihm gewesen zu sein.
Foto: Theo Kust

Zahlreiche Tierarten, wie etwa Hirschkäfer, Weißrückenspecht oder Bechstein-Fledermaus, brauchen genau dieses sogenannte Totholz als Lebensraum, finden es aber im Wirtschaftswald kaum. Dieser bietet nämlich in Buchenmischwäldern nur rund 30 Kubikmeter pro Hektar davon. In Naturwaldreservaten ohne Nutzung sind es dagegen 50 bis 92 und im Rothwald stolze 250 Kubikmeter, wie Katharina Lapin vom Bundesforschungszentrum für Wald ausführt.

Zusätzlich speichern ungenutzte Wälder wie der Rothwald viel mehr Kohlenstoff in ihren Böden als Wirtschaftswälder, weshalb Gratzer und andere Ökologen dafür plädieren, in zehn Prozent aller österreichischen Wälder auf die Nutzung zu verzichten – für Klima und Artenvielfalt. Urwälder wie der Rothwald lassen sich dadurch freilich nicht neu erzeugen, wie Pekny betont: "Die entstehen erst wieder nach der nächsten Eiszeit." (Susanne Strnadl, 14.3.2023)