Die allererste Reise führte ihn in den Achtzigern nach Österreich, genauer ins Salzburgerland, seine letzte nach Tirol. 36 Jahre lang war der Schweizer Reisejournalist Christoph Ammann unterwegs, oft hat er die Grenze zum Nachbarland überquert. Der Mann muss wissen, wie es in der Fremde riecht.

STANDARD: Riecht die Schweiz anders als Österreich?

Christoph Ammann: Wien zumindest riecht anders als Zürich. Dort sind etliche Fiaker unterwegs, die Tiere lassen überall Pferdeäpfel fallen. Diesen Geruch verbinde ich besonders stark mit Wien.

STANDARD: Und die Schweiz riecht nach Käse?

Ammann: Zürich hat keinen speziellen Duft, es gibt dort ja auch nicht mehr Käse als in London. In den Bergen wiederum duftet es wunderbar nach frischem Heu. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, Kuhstall und Heuduft wecken in mir schöne Kindheitserinnerungen. Ich mag den Geruch von gepflügten Feldern, Wiesen, die in der Dämmerung liegen, oder nebeligen Herbsttagen.

STANDARD: Hätten Sie diese Gerüche vor Ihrer Erblindung wahrgenommen?

Ammann: Eher nicht. Ich werde immer wieder gefragt: Riechst und hörst du jetzt besser? Nein, sage ich dann. Aber ich bin darauf angewiesen, gut zu hören und zu riechen. Wobei ich nicht allein losziehen und mir meinen Weg erschnüffeln kann.

Aufgrund der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa hat der 65-Jährige in den vergangenen 18 Jahren langsam sein Augenlicht verloren, seit 2010 ist er nahezu vollständig erblindet. Seinen Job als Reisejournalist übte er weiterhin aus, erst für den Züricher "Sonntagsblick", dann für die "Sonntagszeitung", lange leitete er das Ressort – dank spezieller Computerprogramme kann Ammann selbstständig arbeiten.

Auch den Geruch nebeliger Herbsttage liebt Reisejournalist Christoph Ammann.
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STANDARD: Wie hat sich das Reisen für Sie nach der Erblindung verändert?

Ammann: Früher konnte ich selbstständig tun und lassen, was ich wollte. Heute muss ich mich gut organisieren. Im Idealfall hilft mir eine Begleitung dabei, dass ich mich beim Zugfahren, Fliegen, im Hotelzimmer oder bei der Recherche zurechtfinde. Ich setze meine Sinne anders ein und bin auf Informationen angewiesen. Den Stephansdom beispielsweise lasse ich mir beschreiben. Und dann bleibt mir natürlich der Tastsinn. Aber ich kann ja nicht alles, insbesondere andere Menschen, anfassen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Gerüche auf Ihren Reisen?

Ammann: Sie helfen mir, Situationen besser einzuschätzen. Nicht nur, wenn ich auf unbekanntem Terrain unterwegs bin, sondern auch im Alltag. Laufe ich mit meiner Frau durch den Wald und rieche frisches Harz und Tannengrün, ahne ich, dass in der Nähe Holz geschlagen wurde.

STANDARD: Welche Düfte von unterwegs können Sie noch heute abrufen?

Ammann: Jede Stadt, jedes Land hat eine andere Duft-DNA. In den ostdeutschen Braunkohlerevieren rochen die Heizungen im Winter besonders scharf. Das ist etwas völlig anderes, als durch eine italienische Stadt zu laufen, wo es in den Bars nach Kaffee oder in den Tante-Emma-Läden nach Schinken, Fisch und Gemüse duftet. In Amsterdam hängt der Geruch fettiger holländischer Waffeln über der Stadt, in britischen Pubs riecht es nach Bier und dumpfer Männlichkeit. Dubai ist voll von Autos, und das riecht man. In den Hotels sticht einem der leicht säuerliche Geruch der Klimaanlagen in die Nase.

Amsterdam verbindet der Schweizer mit dem Geruch fettiger Waffeln.
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Christoph Ammann könnte mit seinen Erinnerungen Bücher füllen. Er hat zwar viele Arbeitstage im Büro verbracht, aber auch viel von der Welt gesehen – vom Hochhaus in Chicago über die Jurte in der Mongolei bis zur Berghütte in den Schweizer Alpen. Eine Konstante auf Reisen: das Thema Übernachten.

STANDARD: Können Sie erschnuppern, in welchem Hotel Sie gerade sind?

Ammann: Heute hat jede Hotelgruppe ein Duftkonzept. Man wittert weniger, ob man sich in Frankfurt oder in Istanbul befindet, als in welcher Hotelkette man eingecheckt hat.

STANDARD: Riechen Bahnhöfe besser als Flughäfen?

Ammann: Das kann ich so nicht sagen. Flughäfen sind geschlossene Gebäude. Dort riecht es meist stärker nach Menschen als auf Bahnhöfen, wo der Wind durchpfeift, es rund um die Fressstände nach Sushi, Bratwurst oder Kaffee, manchmal auch nach Metall oder dem Toilettenbereich stinkt. Flughäfen duften eher klinisch, mit Ausnahme jener in England. Dank der endlosen Gänge und der Teppiche dominieren dort muffige Noten.

STANDARD: Wo roch es noch unangenehm?

Ammann: Ich erinnere mich an einen Landgang in der Antarktis, wo ich plötzlich neben 30.000 Pinguinen stand. Diesen Gestank werde ich nicht mehr los. Wegen des scharfen Geruchs des Vogelkots wird man als Passagier mit Kleidung und Stiefeln ausgestattet, sonst stinkt man die ganze Nacht nach Pinguin-Dung, grauenhaft! In Thailand wurde ich auf einen angebratenen Hund eingeladen, eine Herausforderung für meine Nase.

An den Gestank der unzähligen Pinguine in der Antarktis, genauer den scharfen Geruch des Vogelkots, erinnert sich der 65-jährige Schweizer Journalist bis heute.
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Die Einladung zum Festschmaus im Norden Thailands hat Ammann damals angenommen, den Hundebraten allerdings abgelehnt. Nicht immer sind unbekannte Geschmäcker und Gerüche leicht verdaulich, hier und da werden westliche Nasen auf Reisen auch mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert.

STANDARD: Besondere Dufterlebnisse findet man auf fremden Märkten?

Ammann: Das mag ein Klischee sein, aber es stimmt. Ob gekochte Innereien, frisches Gemüse, Eingelegtes oder stinkende Fische, es gibt die ganze olfaktorische Bandbreite zu entdecken.

STANDARD: Was sagen Gerüche über Gesellschaften aus?

Ammann: Natürlich riecht es in Varanasi am Ganges, wo die Menschen mit dem Vieh im selben Raum wohnen und die Toilettensituation nicht geklärt ist, anders als in Zürich. Aber auch in der Schweiz oder in Österreich riecht man Armut.

STANDARD: Können Gerüche dazu beitragen, sich unterwegs zu Hause zu fühlen?

Ammann: Unbedingt, ich mag den Duft von Klimaanlagen. Da weiß ich, dass ich in anderen Gefilden als im Kanton Zürich unterwegs bin. Ich erinnere mich auch an eine Reise nach New Glarus in der Nähe von Chicago. Der Ort wurde von Schweizer Auswanderern nach dem Kanton in der Schweiz benannt. In den Restaurants dort riecht es nach Zürcher Geschnetzeltem und Rösti. Das ist ein grauenhaftes Klischee, aber auch schön. Und auf österreichischen Almen duftet es heimatlich nach Heu.

Aufgrund der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa hat der 65-Jährige in den vergangenen 18 Jahren langsam sein Augenlicht verloren, seit 2010 ist er nahezu vollständig erblindet.
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STANDARD: Können Sie sich auf Ihre Nase verlassen?

Ammann: Schon. Manchmal deckt sich der Geruch wahrscheinlich nicht mit dem optischen Eindruck. Zum Beispiel im Delta des Río de la Plata. Es sieht wunderbar aus, wie da die kleinen Schiffe zwischen den Inseln herumfahren. Aber es stinkt grauenhaft.

Für Ammann bleibt rückblickend die Erkenntnis, wie groß und schön die Welt sei. Aber auch, dass es zu Hause gar nicht so schlecht sei. Die Klimadebatten lassen auch den Reisejournalisten nicht kalt.

STANDARD: Reisen Sie mittlerweile bewusster?

Ammann: Ich stehe da in der Pflicht, meine Frau und meine jüngere Tochter steigen in kein Flugzeug mehr. Wenn ich beruflich fliege, wird zu Recht die Nase gerümpft. Wann immer es geht, nehme ich die Bahn, auch weil ich das bequem finde.

STANDARD: Bequem, sind Sie sicher?

Ammann: Vielleicht nicht immer. Ich erinnere mich an eine Reise mit einem Schulkollegen. 1974, damals war ich 17, waren wir einen Monat lang mit Interrail vor allem in Skandinavien unterwegs. Mit 20 Interrailern im Abteil, die nicht regelmäßig geduscht haben – den Geruch habe ich bis heute nicht vergessen.

STANDARD: An welchen Duft haben Sie eine bessere Erinnerung?

Ammann: Das kann ich Ihnen sagen: an sommerliche Strandspaziergänge an der Ost- oder Nordsee, den Geruch von Salz, Algen und etwas im Landesinneren blühender Vegetation. (RONDO Exklusiv, Anne Feldkamp, 26.3.2023)