Was soll und darf die neutrale Schweiz tun, um der Ukraine zu helfen? Die Schweiz tut sich schwer mit dieser Frage. Sie beteiligt sich zwar an Sanktionen – lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine, auch indirekte, aber ab.

Ein Kampfpanzer Leopard 2 A4 der Schweizer Armee.
Foto: IMAGO/Björn Trotzki

"Der Bundesrat trifft Maßnahmen zur Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz." So steht es weit hinten in der Schweizer Bundesverfassung, im Artikel 185. Doch was genau unter Neutralität zu verstehen ist, wie sie der Wiener Kongress von 1815 der Schweiz zugestanden hat, und was im Rahmen der Schweizer Neutralität möglich ist und was nicht: Das erklärt das Grundgesetz nicht. Experten und Politikerinnen streiten seit Wochen heftig darüber.

Selbst in der Regierung der Schweiz – dem Bundesrat – sind die Auffassungen unterschiedlich. Das wurde in diesen Tagen sichtbar, als Verteidigungsministerin Viola Amherd vor der Schweizer Offiziersgesellschaft zu einer aktiveren Unterstützung der Ukraine aufrief: "Keine meiner Amtskolleginnen und keiner meiner Amtskollegen hat Verständnis dafür, dass wir andere Länder daran hindern, die Ukraine mit dringend benötigten Waffen und Munition zu versorgen. Dass die Schweiz ihren neutralitätspolitischen Handlungsspielraum nicht nutzt – das wird nicht verstanden."

Tags darauf warnte Bundespräsident Alain Berset in einem Interview mit der "NZZ am Sonntag" hingegen vor direkten oder indirekten Waffenlieferungen: "Gerade weil wir neutral sind und keine Weitergabe von Waffen in Kriegsgebiete erlauben, können wir sehr viel leisten für diesen Kontinent. Schweizer Waffen dürfen nicht in Kriegen zum Einsatz kommen."

In diesem Zusammenhang kritisierte der sozialdemokratische Bundespräsident einen "Kriegsrausch" – ein Zitat, für das er viel Kritik erntete, auch aus dem Kreis der eigenen Partei. Zuspruch bekam er dafür lediglich von manchen Politikern der nationalkonservativen SVP.

Parlament blockiert, Waffen werden verschrottet

Im Schweizer Parlament scheiterte letzte Woche ein Gesetzesvorschlag, der indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglichen wollte. So darf nun der deutsche Rheinmetall-Konzern nicht alte Leopard-Panzer aus Schweizer Beständen flottmachen und an die Ukraine weitergeben. Und obwohl die Ukraine dringend auf Flugabwehrsysteme angewiesen ist, macht sich die Schweiz gerade daran, ihre Rapier-Flugabwehrraketen außer Dienst zu nehmen und zu verschrotten – Systeme aus den 1980er-Jahren, die zwar nach Ansicht von Experten alt, aber durchaus noch einsatztauglich sind.

Das Neutralitätsrecht habe sich weiterentwickelt und würde heute die Weitergabe von Waffen durchaus erlauben, meint dazu der emeritierte Berner Völkerrechtsprofessor Thomas Cottier. "Der Grundsatz, dass beide Kriegsparteien gleich behandelt werden müssen, ist mit dem Gewaltverbot der Uno-Charta Artikel 2 Absatz 4 obsolet geworden", sagte Cottier zum Rundfunksender SRF. Neutralität bedeute nicht, abseits zu stehen, wenn ein Staat völkerrechtswidrig angegriffen werde.

Parteipolitische Positionen

Ganz anders sieht dies die nationalkonservative Volkspartei SVP. Mit einer neuen "Neutralitätsinitiative" will sie die immerwährende, ausnahmslose und bewaffnete Neutralität der Schweiz endlich in der Verfassung verankern. Die Schweiz dürfe sich weder direkt noch indirekt an bewaffneten Konflikten beteiligen und auch keine Sanktionen gegen Kriegsparteien ergreifen. Vorbehalten seien Beschlüsse der Uno, heißt es in dem Text – wohl etwas scheinheilig, denn die Vetomacht Russland kann im Uno-Sicherheitsrat sämtliche Beschlüsse verhindern, die den eigenen Interessen zuwiderlaufen.

Nicht auf Beschlüssen der Uno, sondern der EU basieren die Sanktionen gegen russische Unternehmen und Oligarchen, die die Schweiz ergriffen hat. So wurden etwa russische Vermögen im Wert von 7,5 Milliarden Franken (7,66 Milliarden Euro) blockiert. Freilich argwöhnen kritische NGOs wie Public Eye, dass diese nur die Spitze des Eisbergs seien, und fordern, dass die Schweiz als wichtiger Handelsplatz für russische Rohstoffe aktiver nach Beteiligungen, Unternehmen und Vermögen sanktionierter Russen suche, anstatt sich bloß auf die Meldungen von Banken zu verlassen.

Umstritten ist derzeit aber auch, was mit den blockierten russischen Vermögenswerten geschehen soll. Die Forderung, die Milliarden zu konfiszieren und dem ukrainischen Staat für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, lehnt die Schweizer Regierung ab. Dem stehe die Eigentumsgarantie in der Schweizer Verfassung entgegen.

Einen möglichen Ausweg nannte der Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth: Würde man die russischen Oligarchen, ähnlich wie die italienische Mafia, zu einer kriminellen Organisation erklären, dann wäre die Konfiskation möglich.

Die Schweizer Regierung will vorerst abwarten, was die Diskussionen in der EU bringen. Gut möglich, dass sie sich auch hier letztlich wegen des internationalen Drucks wird bewegen müssen. (Klaus Bonanomi aus Bern, 16.3.2023)