Der Tag war gerade erst angebrochen, als es am Dienstag kurz nach sieben Uhr südöstlich der ukrainischen Schlangeninsel zu einem Zwischenfall am Himmel über dem Schwarzen Meer kam: Zwei russische Jagdflugzeuge des Typs Suchoi-27 näherten sich einer US-Drohne MQ-9, nach mehreren Manövern kollidierte einer der Jets nach US-Lesart schließlich mit der unbemannten Drohne und brachte sie zum Absturz.

Während Russlands Botschafter in den USA betonte, dass man nicht auf "Konfrontation" aus sei und die Drohne auf keine Weise angegriffen habe, erklärte das Pentagon, Russland habe "unsicher, unprofessionell und rücksichtslos" agiert.

Auch wenn der Absturz der 32 Millionen US-Dollar teuren und im Militärjargon "Reaper" (Sensenmann) genannten Drohne vorerst keine weiteren Folgen zeitigt: Die Angst vor einer vielleicht unbeabsichtigten, womöglich aber dramatischeren Konfrontation zwischen der Nato und Russland im Luftraum rund um die Ukraine steigt. Lange spielte die russische Luftwaffe im Angriffskrieg gegen die Ukraine in der öffentlichen Wahrnehmung zudem eine untergeordnete Rolle. Bleibt das so? Und wie schlagkräftig ist Russlands Luftwaffe nach einem Jahr Krieg?

Russlands Luftwaffe könnte bald an Bedeutung gewinnen.
Foto: REUTERS/Maxim Shemetov

Einsatz bei Frühlingsoffensive

Bisher, so sind sich die meisten Beobachterinnen und Beobachter einig, waren es vor allem zwei Faktoren, die Russlands blutigen Vormarsch etwa im Donbass möglich machten: Artillerie und Raketen. Erstere bombardieren im Osten Stadt um Stadt in Grund und Boden, Letztere legen, meist von Flugzeugen tief im russischen Luftraum abgefeuert, seit Oktober immer wieder weite Teile der ukrainischen Energieinfrastruktur lahm – mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Vor allem das Prunkstück in Russlands Militärhangars, die Suchoi-57, blieb dem ukrainischen Luftraum bisher aber fern – dem britischen Verteidigungsministerium zufolge will Moskau keinen Abschuss riskieren.

Nun dürften die Flugzeuge mit dem emblematischen roten Stern aber noch öfter über ukrainischen Städten auftauchen. Kiews Militärgeheimdienst zufolge hat Moskau 450 Flugzeuge und 300 Helikopter im Westen Russlands postiert – außerhalb der Reichweite der ukrainischen Himars-Raketenwerfer. Während nach US-Schätzung rund die Hälfte der russischen Panzer in der Ukraine zerstört oder vom Gegner erbeutet wurden, hat Moskau im selben Zeitraum maximal acht Prozent seiner 1.500 Kampfflugzeuge verloren, schätzt die britische Denkfabrik IISS.

"Noch viel Potenzial"

"Wir wissen, dass Russland eine substanzielle Zahl an Flugzeugen besitzt und noch viel Potenzial übrig ist", räumte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Mitte Februar ein. Auch das Londoner Royal United Services Institute kam in seinem Jahresbericht 2022 zu dem Schluss, dass Russland seine Luftwaffe zu Beginn des Krieges weit intensiver – und effektiver – eingesetzt hat als bisher bekannt. Der zahlenmäßige Vorteil gegenüber der Ukraine ist zudem erdrückend: Allein an Jagdflugzeugen dürfte Russland zehnfach überlegen sein.

Grafik: DER STANDARD

Die Lufthoheit, also die alleinige Kontrolle des ukrainischen Luftraums, vermochte Russland bisher freilich nicht zu erringen. Muss es auch nicht, sagt Bundesheer-Analyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie dem STANDARD: "Auf strategischer Ebene kann die russische Luftwaffe auch so jederzeit bestimmen, wo sie angreift, weil sie ihre Marschflugkörper von Belarus oder von Russland aus abfeuert." Erst Ende vergangener Woche wurde die Ukraine mit Angriffen überzogen, dabei sollen auch sechs Kinschal-Hyperschall-Raketen zum Einsatz gekommen sein, die nicht abgefangen werden können.

Lager leeren sich

Reisner zufolge dürften Russlands Bestände an Luft-Boden-Raketen und präzisionsgelenkter Munition aber langsam knapp werden. "An den Losnummern auf den Trümmerstücken erkennt man, dass nun auch Raketen aus neuester Produktion eingesetzt werden. Das ist neben dem Einsatz von Schiffsraketen ein Indiz dafür, dass die Lager leer werden."

Was die Flugzeuge selbst betrifft, stellt sich die Situation anders dar. Abschüsse, die der ukrainischen Armee etwa mithilfe schultergestützter Manpads-Raketen gelingen, macht Russland durch Masse wett: "Die Abnützung hat noch keinen kritischen Punkt erreicht."

Indem die russische Armee außerdem massenhaft Shahed-136-Drohnen aus iranischer Herstellung gegen ukrainische Städte und die kritische Infrastruktur des Landes einsetzt, beweise Moskau, dass man gelernt hat, Engpässe rasch und kostengünstig zu kompensieren. Offiziell bestreitet Russland freilich den Einsatz der sogenannten Kamikaze-Drohnen.

Eigene Doktrin

Allgemein hält der Analyst die Rolle der russischen Luftstreitkräfte für unterschätzt: "Die russische Luftwaffe folgt ganz einfach einer anderen Doktrin als jene im Westen. Sie fliegt vor allem taktische Angriffe. Zu Beginn waren diese auf die ukrainische Luftabwehr gerichtet und haben diese zu etwa 80 Prozent ausgeschaltet. Im Donbass dient die Luftwaffe zur Unterstützung der Bodentruppen."

Auf russischer Seite sieht Reisner jedenfalls die Frühlingsoffensive längst im Gang. "Sollte die Ukraine, die dringend Erfolge braucht, nach der Schlammperiode ihrerseits eine Offensive entwickeln, wird die russische Luftwaffe versuchen, die ukrainischen Bodenkräfte abzunutzen." In Kiew wartet man freilich bis heute auf westliche Kampfjets. (Florian Niederndorfer, 16.3.2023)