Xi (links) nütze Gelegenheiten, meint Taiwan-Expertin Bonnie Glaser.

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Seit mehreren Jahrzehnten beobachtet die US-Amerikanerin Bonnie Glaser die Beziehungen zwischen China, Taiwan und den USA. Im STANDARD erörtert sie das aktuelle Risikobild.

STANDARD: Die USA-China-Beziehungen sind auf einem Tiefpunkt. Was bedeutet das für Taiwan?

Glaser: Am besten für Taiwan ist es, wenn die Suppe weder zu heiß noch zu kalt ist. Denn bei extrem schlechten Beziehungen zwischen den USA und China, so wie wir sie jetzt sehen, zweifelt China an der Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Ein-China-Politik. Peking hat jedes Vertrauen verloren, dass die USA sich in ihren Beziehungen zu Taiwan limitieren. Wenn China sicherer wäre, dass die USA Taiwan nicht als Karte gegen Peking benutzen, wäre das gut für Taiwan. Aber China glaubt das.

STANDARD: Wie könnte man China vom Gegenteil überzeugen?

Glaser: Ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist. Aber es muss mit einer klareren und konsistenteren Ein-China-Politik beginnen.

STANDARD:In Taiwan gibt es aber auch laute Rufe nach einem Bekenntnis der USA, Taiwan zu verteidigen. Warum folgen die USA diesen nicht?

Glaser: Die USA brachen ihre diplomatischen Beziehungen mit Taiwan 1979 ab. Damals haben die USA auch den Verteidigungspakt mit Taiwan aufgehoben. Wenn wir heute sagen würden, die USA würden unter allen Umständen Taiwan verteidigen, könnte Peking glauben, dass wir am Ende zu diesem vertragsähnlichen Bündnis zurückkehren und dass die Situation so gefährlich ist, dass sie Gewalt eher früher als später anwenden müssten. Manche Leute argumentieren auch, dass China sich verkalkulieren und denken könnte, die USA würden Taiwan nicht verteidigen. Peking kalkuliert aber seit Mitte der 1990er-Jahre eine US-Intervention mit ein.

STANDARD: Wie sehr fühlt sich Chinas Präsident Xi Jinping unter Druck gesetzt, in den kommenden Jahren anzugreifen?

Glaser: Es sind Umstände vorstellbar, die Xi dazu bringen könnten, sich für eine Invasion zu entscheiden: etwa wenn die USA ankündigen, tausende Truppen nach Taiwan zu schicken. Auch wenn Taiwan die Unabhängigkeit erklärt, ist das eine rote Linie. Aber wenn man Xi bisher genau zugehört hat, dann klang die Erlangung der Wiedervereinigung nicht besonders dringlich. Aber Xi ist entschlossen, Taiwans Unabhängigkeit abzuwenden, ja. Manche Leute glauben, dass die Wiedervereinigung für ihn eine Frage des Erbes ist. Ich denke das nicht. Als er an die Macht kam, sagte er, dass die Wiedervereinigung eine Voraussetzung für die "nationale Erneuerung" sei. Zieldatum dafür ist 2049. Dann ist Xi 95. Für mich klingt es so, als würde er diese Aufgabe seinem Nachfolger überlassen – wer auch immer das sein mag. Xi versteht die Risiken gut. Wenn China die Wiedervereinigung versucht und scheitert, dann ist das eine Gefahr für ihn persönlich. Und er möchte seine Position nicht schwächen. Gleichzeitig ist Xi aber opportunistisch. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, könnte er sie ergreifen.

STANDARD: Welche Rolle spielt Europa in Bezug auf Taiwan?

Glaser: Ich denke nicht, dass Europa eine Rolle in einem militärischen Notfall spielen würde. Trotzdem muss sich Europa militärisch besser darauf vorbereiten, im Fall US-Truppen in der Nato zu ersetzen, die Missionen im Nordatlantik ausüben. Die Biden-Regierung übt außerdem Druck auf Europa aus, sich Gedanken über Sanktionen gegen China zu machen, falls dieses Taiwan angreift – und diese dann auch bereits im Vorfeld China zu kommunizieren. Wir haben das mit Russland nicht gemacht. Vielleicht hätten wir Putins Meinung nicht ändern können. Aber Xi ist nicht Putin. Ich denke, wir können immer noch seine Kosten-Nutzen-Rechnung beeinflussen. (Anna Sawerthal, 16.3.2023)