Dicke Regentropfen fallen auf die Wellblechdächer der Hütten und Häuser in Guarjila, einer Ortschaft im Norden von El Salvador, dem kleinsten Land Mittelamerikas. Der junge Mann Carlos Tobar besucht Doña Margarita, die Mutter eines Freundes, den die Polizei vor einem halben Jahr festgenommen hat. "Sie kamen in Begleitung von Soldaten der Armee", erinnert sich die Frau und kämpft mit den Tränen. "Es gab keinen Haftbefehl und keinen Hinweis auf eine Straftat. Trotzdem haben sie meinem Sohn Handschellen angelegt und ihn in ein Auto gestoßen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen und bekomme keine Informationen. Ich weiß nur, dass er mit vielen anderen in einer Zelle auf dem Boden schläft."

Seit März vergangenen Jahres leben die Menschen in El Salvador in einem staatlich verordneten Ausnahmezustand. Grund dafür ist eine brutale Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, für die vor allem die berüchtigte Jugendbande Mara Salvatrucha verantwortlich gemacht wird. Präsident Nayib Bukele, bekannt für autoritären Führungsstil, wies daraufhin das Parlament an, einen 30-tägigen Notstand auszurufen.

Mütter demonstrieren für die Freilassung ihrer Söhne.
Foto: APA/AFP/MARVIN RECINOS

Doch es blieb nicht bei dem einen Monat. Ein ums andere Mal wurden die Sondermaßnahmen verlängert. "Den Inhaftierten wird vorgeworfen, sie seien Terroristen, sie würden terroristischen Banden angehören", sagt Doña Margarita. "Aber mein Sohn war Student an der Universität. Er hat nichts von dem getan, was ihm vorgeworfen wird."

Ausgesetzte Grundrechte

Die Regierung hat vier zentrale Grundrechte ausgesetzt: das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Briefgeheimnis, das Recht, innerhalb von 72 Stunden nach Verhaftung einem Gericht vorgeführt und über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden, und das Recht auf juristischen Beistand und einen fairen Prozess.

Gerechtfertigt wird all das mit dem Ziel, den Terrorismus zu bekämpfen. Die salvadorianischen Sicherheitsbehörden gehen von 80.000 Mitgliedern krimineller Banden aus, in einem Land mit an die sieben Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen.

Bukele trat die Präsidentschaft 2019 mit dem Versprechen an, die organisierte Kriminalität und die brutal agierenden Maras zu bekämpfen. Unter dem Begriff werden verschiedene Banden zusammengefasst. Manche wurden in den USA von Migranten gegründet, beeinflusst von dortigen Gangs. Im Zuge der "Null-Toleranz-Strategie" der US-Behörden wurden viele Mitglieder solcher Gruppen nach Mittelamerika abgeschoben.

Spektakel für die Medien: Ende Februar ließ Bukele tausende Häftlinge in ein neu errichtetes Hochsicherheitsgefängnis verlegen.

Seit Beginn des Ausnahmezustands wurden rund 60.000 vorwiegend junge Männer verhaftet, meist ohne Beweise und ohne Aussicht auf einen fairen Prozess. Die Zahl der Häftlinge in den zuvor schon völlig überfüllten Gefängnissen hat sich mehr als verdoppelt.

Der 24-jährige Carlos: "Als Grund für eine Festnahme reicht es schon, wenn du jung bist und arm. Beides gilt in dieser Gesellschaft als gefährlich. Irgendwelche Leute denunzieren dich. Sie sagen, du seist ein Bandenmitglied. Die Polizisten glauben einfach den anonymen Anrufern und bringen dich ins Gefängnis."

Alle weg

Carlos ist der Trainer der Jugendfußballmannschaft in dem Dorf Guarjila. Doch schon lange kommen keine Jugendlichen mehr zum Training. Entweder sind sie im Gefängnis, oder sie sind Richtung USA geflohen, aus Angst vor den willkürlichen Festnahmen. Das ist auch für einen Fußballtrainer frustrierend: "Der Präsident sagt, er wolle die Jugendbanden in den gefährlichsten Regionen El Salvadors ausschalten. Aber hier in Guarjila war es nie wirklich gefährlich. Trotzdem werden seit Monaten immer mehr unschuldige Personen festgenommen."

Carlos geht über einen Pfad aus Sand und Lehm zum Haus seiner Großeltern. In einem feuchten Gebüsch am Wegrand sammelt sein Großvater Reisig. Der alte Mann war während des salvadorianischen Bürgerkriegs vor 35 Jahren ein Kämpfer der linksrevolutionären Guerilla. "Damals habe ich für eine gerechtere Gesellschaft gekämpft. Jetzt bin ich sehr besorgt wegen dieses Notstandsregimes."

Gefangenenbusse in Tecoluca, 24. Februar.
Foto: Reuters/ Secretaria de Prensa de la Presidencia

Verschiedenen Menschenrechtsorganisationen zufolge sind seit Beginn des Ausnahmezustands mindestens 80 Häftlinge gestorben, manche an Hunger, andere an Folter.

"Ein Junge hier aus dem Dorf hat sein Leben verloren", weiß der alte Mann. "Sie haben ihn so sehr geschlagen, dass eine Rippe brach. Dann starb er."

Kampf gegen Banden

Ein paar Schritte weiter steht ein kleines Gebäude mit Wänden aus Lehmziegeln. In den Räumen sind mehrere Werkstätten untergebracht. Carlos ist in seiner Jugend oft hierhergekommen, um an einem Ausbildungsprogramm für Jugendliche teilzunehmen. An diesem Tag hat sich eine kleine Gruppe zusammengefunden – fast ausschließlich Mädchen.

Die Sozialarbeiterin Reyna Morales engagiert sich ehrenamtlich für das Programm. Eines der Projekte nennt sich "Junge Entrepreneure konstruieren die Zukunft". Es geht darum, neue Einkommensmöglichkeiten für Jugendliche zu schaffen, damit sie sich nicht den Banden anschließen. Die Hälfte der Bevölkerung El Salvadors lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Die alleinerziehende Mutter Morales kennt Carlos, seit er klein war. "Einer der Burschen, die er trainiert, ist mein elfjähriger Sohn. Der freut sich jede Woche auf das Training am Samstag. Aber jetzt kommt er immer enttäuscht nach Hause, weil sie nicht spielen können."

Macht verloren

Morales verdient ihr Geld zum Überleben mit dem Handel mit Haushaltswaren. Deshalb muss sie oft in die Hauptstadt San Salvador fahren. Dort kennt sie Familien in Armenvierteln, deren Kinder nachmittags nie aus dem Haus gegangen sind, weil eine Jugendbande die Straßen kontrolliert hat. Wer nicht bei ihnen mitmachen wollte, wurde getötet, erzählt sie.

"Diese Familien haben kleine Geschäfte, mit denen sie gegen ihren Willen die kriminellen Strukturen finanziert haben. Wer sich weigerte, den Banden eine Gebühr zu zahlen, dessen Laden wurde angezündet. Solche Erpressungen gibt es heute nicht mehr. Die Täter sind im Gefängnis."

Sie haben es überstanden: Im Oktober wurden einige Festgenommene freigelassen.
Foto: AP/Moises Castillo

Dass die Banden an Macht verloren haben, wird in El Salvador gutgeheißen. Noch immer weist das Land die weltweit höchste Rate gewaltsamer Todesfälle auf. Morales zeigt Verständnis für das harte Durchgreifen der Polizei. "Als Mutter träume ich von einem Land, in dem mein Sohn rausgehen kann – ohne dass jemand versucht, ihn für eine kriminelle Bande zu rekrutieren, oder ihn zwingt, an einem Verbrechen teilzunehmen." Während man in der Hauptstadt also durchatmet, ist die Sache in der Provinz ambivalenter: Carlos hat heute mehr Angst vor der Willkür der Polizei als vor der Gewalt der Banden. (Andreas Boueke aus El Salvador, Südwind-Magazin, 22.3.2023)