Der Ermittlungsbericht der Vereinten Nationen enthält viele schockierende Passagen – es sind kurz geschilderte Grausamkeiten, welche Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der überfallenen Ukraine verübt haben sollen: Ein von Russen festgesetzter Mann sprach Ukrainisch, er konnte sich der Textpassagen der russischen Nationalhymne nicht entsinnen – die russischen Besatzer prügelten ihn deshalb. Zwei Frauen in verschiedenen russischen Gefangenenlagern in der Region Charkiw mussten sich vor ihren Peinigern ausziehen. Sie wurden vergewaltigt. Ein Mann, dessen Vater die Russen in der Region Isjum exekutiert hatten, verlangte "vollste Bestrafung" der Täter.

Mehr als ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs legte die Untersuchungskommission für die Ukraine des UN-Menschenrechtsrats am Donnerstag in Genf ihren Report vor. Das Fazit: Die Streitkräfte des Kreml haben seit ihrem Einmarsch am 24. Februar 2022 in das Nachbarland eine große Zahl an Kriegsverbrechen verübt. Auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen laut den Ermittlern den Kreml-Truppen zur Last gelegt werden.

Liste des Grauens

Der Vorsitzende der Kommission, der norwegische Topjurist Erik Møse, und seine Mitarbeiter listeten die Taten auf: Darunter befinden sich Angriffe auf Zivilisten und die Energieinfrastruktur, vorsätzliche Tötungen, ungesetzliche Inhaftierungen, systematische und weitverbreitete Folter, sexuelle Gewalt sowie Deportationen und Verschleppungen von Kindern aus der Ukraine nach Russland.

Die deutsche Botschafterin bei den UN in Genf, Katharina Stasch, nannte die Kindesentführungen "besonders abscheulich".

Angesichts der Gräueltaten empfiehlt die Kommission, "alle Verstöße und Verbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – entweder auf nationaler oder auf internationaler Ebene". Bald schon soll die Kommission eine Liste mit mutmaßlichen Kriegsverbrechern an das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte übergeben.

Im Bericht von Uno-Chefermittler Erik Møse ist von vielen Kriegsverbrechen die Rede. Für diese sei auch Wladimir Putin verantwortlich.
Foto: IMAGO/Sergei Bobylev

Auf dieser Liste dürften sich neben den Tätern vor Ort auch die Verantwortlichen in den obersten Etagen des russischen Regimes, allen voran Präsident Wladimir Putin, finden. Doch werden sich Putin und seine engsten Gefolgsleute persönlich vor einem Richter verantworten müssen? Solange Putin und sein Regime die Macht in Moskau innehaben, wird sich Russland kaum um eine juristische Aufarbeitung der Gräueltaten scheren.

Moskau gegen "Dialog"

An eine Überstellung der Täter an internationale oder nationale Gerichte im Ausland ist nicht zu denken. Bislang lehnen die russischen Behörden und Streitkräfte jeglichen "Dialog" mit der UN-Untersuchungskommission ab, wie Møse resigniert feststellte. Immerhin plant der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag laut New York Times die Eröffnung von Verfahren gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher, darunter dürfte sich auch Putin selbst befinden. Auf Anfrage dieser Zeitung über geplante Verfahren antwortete der IStGH: Zu diesem Thema werde "derzeit kein Kommentar" gegeben. Bei möglichen Prozessen in Abwesenheit der Angeklagten würde auch Material einfließen, das die UN-Untersuchungskommission dokumentiert hat. Ermittelt hat die Kommission in 56 Ortschaften der Ukraine, etwa in Butscha, und sie befragte 348 Frauen und 247 Männer. Die Ermittler besichtigten zerstörte Gebiete, Gräber, Haft- und Folterorte sowie Waffenreste.

Liegen den Ermittlern neben den Beweisen für Kriegsverbrechen auch Belege für einen Völkermord vor? "Wir haben nicht herausgefunden, dass in der Ukraine ein Genozid stattgefunden hat", betonte Møse. Für eine abschließende Beurteilung sei es zu früh. Ob die Untersuchungskommission den Tätern auf der Spur bleibt, steht auch noch nicht fest. Der Menschenrechtsrat der Uno muss das Mandat des Teams verlängern, das ursprüngliche einjährige Mandat läuft diesen Monat aus. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 16.3.2023)