Die Place de la Concorde war am Donnerstagabend blockiert.

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Proteste im Zentrum von Paris.

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"Macron im Dienst von Black Rock, der Schwarze Block im Dienst des Volks"

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Brennende Mülltonnen in Marseille.

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So etwas hatte die altehrwürdige Nationalversammlung in Paris wohl noch nie gesehen: Als Premierministerin Elisabeth Borne die Pensionsreform verteidigen wollte, erhob sich die Linksopposition geschlossen, stimmte die Marseillaise an und hielt Transparente mit der Aufschrift "Nein zu den 64 Jahren" hoch. Die Parlamentsvorsitzende musste die Sitzung unterbrechen.

Minuten später trat Borne erneut vor die Abgeordneten, schreiend kämpfte sie gegen den Lärmpegel an, um einen Regierungsbeschluss bekanntzugeben: Das um zwei Jahre erhöhte Pensionsalter 64 wird per Verfassungsartikel 49.3 in Kraft gesetzt – ohne Abstimmung.

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"Brechstange"

Diese "institutionelle Brechstange", wie Juristen es nennen, hilft der Exekutive, einen Gesetzestext zu genehmigen, ohne sich auf eine riskante Abstimmung einlassen zu müssen. Dafür muss sich die Regierung Borne in den nächsten Tagen einer Vertrauensabstimmung stellen. Verliert sie sie, kommt es vermutlich zu Neuwahlen.

Noch am Donnerstagmorgen hatten die meisten Beobachter damit gerechnet, dass Macron die Pensionsreform dem Parlament zu einer regulären Abstimmung unterbreiten würde. Seine Partei Renaissance schien zusammen mit den Républicains die absolute Mehrheit von 289 Stimmen in der 577-köpfigen Nationalversammlung ganz knapp zu erreichen.

Doch dann erachtete Macron das Risiko einer Abstimmungsniederlage für zu hoch: Er gab Anweisung, die Reform durchzudrücken.

Massiver Widerstand

Dass es Borne kaum schaffte, die Entscheidung im allgemeinen Tohuwabohu bekannt zu machen, zeigt die Virulenz des politischen Widerstandes gegen die Reform. Hunderttausende Demonstranten waren seit Monaten immer wieder auf die Straße gegangen. Streiks legten den öffentlichen Verkehr, Ölraffinerien und neuerdings auch die Müllabfuhr lahm.

In Paris setzte die Polizei am Donnerstagabend auf der Place de la Concorde in Paris Tränengas und Wasserwerfer ein. Insgesamt seien rund 6.000 Teilnehmer gezählt worden. 217 Menschen wurden festgenommen. In Marseille verwüsteten Demonstranten mehrere Geschäfte. Die größten Gewerkschaften riefen zur Ausweitung der Proteste auf. Am Wochenende sollen weitere Demonstrationen organisiert werden, für den 23. März ist ein weiterer Aktionstag mit Streiks geplant. Auch in anderen französischen Städten wie Dijon, Nantes, Rennes, Rouen, Grenoble, Toulouse und Nizza kam es zu Protesten.

In ersten Reaktionen sprachen Politkommentatoren nicht etwa von einem Sieg, sondern von einem "herben Rückschlag" für Macron. Dass er den – faktisch dem Präsidenten vorbehaltenen – Artikel 49.3 aktivieren müsse, um sein wichtigstes Politprojekt durchzubringen, verheiße nichts Gutes für das Regierungslager – und für die Reform.

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Vor der Nationalversammlung erklärte der Vorsitzende der Landesgewerkschaft CGT, Philippe Martinez, der Kampf gehe "bis zum Rückzug der Reform" weiter. Die Linksabgeordnete Raquel Garrido sagte, wenn Macron den "Revolver der Demokratie" – sie meinte den präsidialen Artikel 49.3 – ziehe, werde der unbeliebte Staatschef die öffentliche Meinung noch stärker gegen sich aufbringen. Bisher lehnen in Umfragen rund 70 Prozent der Befragten die Reform ab.

Premierministerin Borne in Gefahr

Macron hat persönlich von den Pensionswirren an sich nichts zu befürchten: Der Präsident sitzt von der Verfassung her fest im Sattel. Theoretisch kann die Pensionsreform noch durch ein Misstrauensvotum gekippt werden. Die Regierung mit Premierministerin Borne könnte aber über die Vertrauensabstimmung zu Fall kommen, wenn sie diese verliert.

Neuwahlen scheinen derzeit wenig wahrscheinlich, da die wenigsten Parteien dafür bereit wären. Wenn Macron aber an seiner Reform festhält und die Opposition dagegen nicht abflaut, ist dieses Szenario nicht mehr auszuschließen. Und falls das Macron-Lager dabei einbricht, würde die Politkrise bald auch den Präsidenten im Élysée-Palast erreichen. (Stefan Brändle aus Paris, 16.3.2023)