Judith Hermann: "Das A ist wie ein Zirkel, mit dem man einen Kreidekreis ziehen kann. Er hat eine Farbe, er ist rot. Er ist ein Signal im allerbesten Sinne."

Foto: Andreas Reiberg

Dass Judith Hermann nicht mehr an ihrem Computer in Berlin sitzt, sondern irgendwo in Friesland, lassen nur die dunklen Holzbalken an der Zimmerdecke, die über ihren hochgesteckten Haaren schweben, erahnen. Seit 25 Jahren schreibt sie mit schöner Beständigkeit ihre Erzählbände und Romane, von Sommerhaus, später, mit dem sie bekannt wurde, bis zu Daheim, das 2022 erschien. Im April kommt die deutsche Schriftstellerin zum Literaturfestival Literatur und Wein nach Krems, um dort ihr neues Buch vorzustellen: Wir hätten uns alles gesagt, ihre Frankfurter Poetikvorlesung. In Friesland, wo sie jetzt lebt, erzählt sie vorab auf Zoom, gebe es im Frühling herrliche Wetterwechsel: Hagel, Schauer, Stürme. Dann sei es wieder sonnig, aber kalt. Sehr belebend, befindet Hermann: "Der Frühling nimmt mich an der Hand, ob ich will oder nicht" – den Schutzraum des Winters verlassen, sich bewegen, den Dingen stellen. Frühling bedeutet für Judith Hermann eine ständige Aufforderung zum Aufbruch, zum Anfang. Das trifft sich gut. Über Anfänge wollen wir mit ihr reden.

STANDARD: Wenn wir zu den Anfängen Ihres Schreibens zurückgehen, möchte ich von Ihnen wissen, wie Sie damals mit einem Schreibstipendium im Günter-Grass-Haus gelandet sind.

Hermann: Ich war damals Mitte zwanzig und hatte vom literarischen Schreiben nicht die leiseste Ahnung. Ich hatte ein paar Semester Germanistik, Philosophie und Musik studiert und eine Ausbildung an der Berliner Journalistenschule absolviert. Die Vorstellung, beim Deutschlandradio eine feste Stelle anzunehmen, hatte etwas Klaustrophobisches für mich, und ich habe mich für dieses Stipendium beworben, wie ein Hase, der aus Angst einen Haken schlägt. Ich wollte eigentlich Reportagen schreiben, aber auf der Journalistenschule war ich im Fach Reportage eindrucksvoll durchgefallen. Meine Reportagen konnten sich, so die Bewertung, nicht zwischen journalistischem und literarischem Schreiben entscheiden, und was dabei herauskomme, sei Kitsch. Das war ein traumatisches und vernichtendes Urteil, aber es hatte den Effekt, dass mir das literarische Schreiben einfiel, als der Journalismus zu eng wurde. Wirklich angefangen zu schreiben habe ich erst in Wewelsfleth. Mit der Ankunft dort, der Trennung von zu Hause, von Freunden und Familie, dem Winter in einem kleinen, ziemlich stillen Dorf an der Elbe. Ich hatte von nichts eine Ahnung. Es war ein Sprung in sehr kaltes Wasser.

STANDARD: Wann haben Sie diese erste Geschichte "Rote Korallen", die da entstand, zuletzt gelesen?

Hermann: Rote Korallen ist die erste Geschichte gewesen, die ich geschrieben habe, und ich habe durchaus verstanden, dass die Frage der Protagonistin danach, welche Geschichte sie eigentlich erzählen wollen würde, meine eigene Frage war. Am Anfang hatte ich die Befürchtung, dass die Geschichte kitschig sein würde, eine Folklore, etwas Rührseliges, aber dann habe ich diese Befürchtung über Bord geworfen. Ich hatte eine eigene Autonomie beim Schreiben dieses Buches – ich wusste nichts von Lesern, Kritikern, vom Literaturbetrieb, ich war angstfrei, ich durfte schreiben, was ich wollte. Also war diese Geschichte fast ein Prolog für mein späteres Schreiben, und erstaunlicherweise gilt sie auch heute noch; ich frage mich bis heute, welche Geschichte ich eigentlich erzählen will. Und ich lese Rote Korallen häufig an Schulen. Ich kann sie, mehr oder weniger, auswendig.

STANDARD: Sie sind mit dieser ersten Geschichte noch immer einverstanden?

Hermann: Ja, ich bin sehr mit ihr einverstanden, und das geht mir bei weitem nicht mit allen Geschichten so. Dieses merkwürdige, etwas somnambule Mädchen mit ihrer kindlichen Beharrlichkeit ist mir immer noch vertraut. Das Schlussbild ist mir vertraut – die Flut der Geschichten, die auch den Psychoanalytiker mit in den Abgrund reißt. Diese Flut kommt so unvermittelt, und sie hat eine Kraft, die ich auch heute noch gut finde.

Mit Beginn der Pandemie ist Judith Hermann in Friesland geblieben, sie vermisst Familie und Freunde, aber die Stadt Berlin nicht im Geringsten, erzählt sie im Interview.
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STANDARD: Diese erste Geschichte spinnt einen roten Faden von Ihren Anfängen bis zu Ihrem aktuellen Buch "Wir hätten uns alles gesagt", die Frankfurter Poetikvorlesung, die jetzt in Buchform erschienen ist. In dieser Vorlesung geht es schon zu Beginn um eine private Begegnung mit Ihrem alten Analytiker. Sie schreiben in der Folge auch darüber, dass Sie Angst hatten, durch den analytischen Prozess mit dem Schreiben aufzuhören. Warum?

Hermann: Es gibt die etwas klischeehafte Vorstellung vom Defekt, der zugleich auch Motor, auch Motivation für eine künstlerische Arbeit sein kann. Wenn der Defekt behoben ist, ist da ein zufriedener, mit allem einverstandener Mensch, der plötzlich ganz andere Dinge machen will, als allein zu sein und Bücher zu schreiben. Es ist eine eigenartige Zwickmühle, in der ich mich befand und auf eine Weise bis heute befinde – ich will schreiben, auch wenn das Schreiben anstrengend und mühselig ist. Und ein Preis für das Schreiben schien mir diese gewisse – sagen wir – Unzulänglichkeit zu sein. Und die Frage: Muss ich die behalten? Ich schreibe in der Vorlesung darüber, dass die Art, in der der Analytiker mit mir umgegangen ist – eher wortlos, beinah gleichgültig, ziemlich zurückhaltend – die richtige gewesen ist, weil ich mit ihr weiterschreiben konnte. Und trotzdem hat sie mich, hat sie mein Schreiben verändert.

STANDARD: Katja Lange-Müller hat Ihnen ganz am Anfang Ihrer Karriere auf einem Podium den Ratschlag gegeben, Dinge nicht auszuführen, dem Schreiben ein Geheimnis zu lassen. Mit dieser Frankfurter Vorlesung haben Sie viel von sich preisgegeben. Ist das riskant?

Hermann: Ursprünglich hatte ich die Vorstellung, den Text zu schreiben, mit ihm in die Universität zu gehen, ihn vorzulesen und wieder nach Hause zu gehen. Kein Manuskript für die Zuhörer, kein Stream, keine Aufnahme. Nur die Vorlesung. Diese Vorstellung hat dazu geführt, dass ich mehr von mir erzählt habe, persönlicher geworden bin – aber eben auch mehr im Text verborgen habe, verschwiegener gewesen bin. Ich glaube, dass man beim Schreiben zur eigenen Poetik nicht darum herumkommt, etwas über sich zu erzählen. Ich habe gezögert, die Vorlesung zuzusagen, ich habe die Einladung am Ende nicht ausschlagen können – es schien darum zu gehen, dazu zu stehen, eine Schriftstellerin zu sein. Der Schutz, den ich mir selbst gegeben habe, war der Eindruck, der Text gehöre auch nach der Vorlesung immer noch mir und niemandem sonst. Hätte ich gewusst, dass aus der Vorlesung ein Buch werden würde, hätte ich anders geschrieben. Aber schon in Frankfurt ist der Text beim Lesen ein anderer geworden – das Publikum hat ihn sich auch durchs Zuhören im besten Sinne angeeignet. Ich bin beinah ein wenig froh darüber. Ich empfinde eine Zäsur, und es wird sich zeigen, wo diese Zäsur mich hinführt. Sie passt jedenfalls zum Roman Daheim, vor allem zu seinem Ende.

STANDARD: Ist Schreiben über das eigene Schreiben eine Alterserscheinung?

Hermann: Ohne die Vorlage der Poetikvorlesung hätte ich nicht über das Schreiben geschrieben, Schreiben über Schreiben war für mich das vorgegebene Thema des Textes. Entstanden ist eine Art chronologischer Blick auf die eigene Arbeit, auf Jahre, Bücher und Veränderungen. Eine Rückschau. Und vermutlich macht diese Rückschau erst Sinn, wenn man schon einige Bücher geschrieben hat, und wenn man so langsam schreibt wie ich, braucht man für diese einigen wenigen Bücher erstaunlich viel Zeit.

STANDARD: Wenn ich aufmerksam gelesen habe, gibt es keine Fragezeichen in dem Buch.

Hermann: Ja. Aber ich kann auch die Fragezeichen in den anderen Büchern an den Fingern einer Hand abzählen. In Daheim gibt es genau eines – ich kam nicht drumherum. Ich vermeide Fragezeichen, sie haben etwas Autoritäres, sie zwingen der Sprache einen Ton auf. Ich will den Tonabfall am Ende eines Satzes. Ich setze einen Punkt anstatt ein Fragezeichen.

STANDARD: Weil wir uns in dieser ALBUM-Ausgabe dem Buchstaben A verschreiben. Auch bei Ihnen gibt es einige Figuren, Buchtitel und natürlich Ihr Lieblingsobst, die mit A beginnen: Ada, Anna, Alice, "Aller Liebe Anfang", Äpfel etc. Was assoziieren Sie mit dem Buchstaben A?

Hermann: Ich mag tatsächlich Namen sehr gerne, die mit einem A beginnen. A ist der erste Buchstabe unseres Alphabetes, der Anklang aller Wörter überhaupt, ein Buchstabe, den man aus dem Bauch heraus aussprechen muss. Alpha. Ausatmen. Anfangen. Er ist optisch schön, ein Dach über den Dingen, ein Schutz. Das A ist ein Zirkel, mit dem man einen Kreidekreis ziehen kann. Er hat eine Farbe, er ist rot. Er ist ein Signal im allerbesten Sinne.

STANDARD: In Ihrer Poetikvorlesung geht es auch eindringlich um die Zeit der Pandemie. Was hat sie alles für Sie ausgelöst?

Hermann: Ich habe Wir hätten uns alle gesagt vor allem während des ersten Lockdowns geschrieben. Die Pandemie war für mich, wie für uns alle, fürchterlich, und trotzdem erinnere ich mich gerne an das Alleinsein, an die heruntergefahrene, stillstehende Welt. Ein leerer Himmel. Verlassene Straßen. Der Schreibprozess war ein geradezu exklusives Selbstgespräch, noch ausgeprägter als sonst – es war einfach niemand da. Ich habe in Friesland geschrieben und hatte unglaublich viel Zeit fürs Nachdenken, Arbeiten, Spazierengehen, ich wurde von nichts unterbrochen. Das war kostbar, es ist unvergesslich für mich.

STANDARD: Hat die Pandemie auch den Umzug von der Stadt aufs Land bewirkt?

Hermann: Sie hat ihn beschleunigt, ja. Ich habe auch Daheim in Friesland geschrieben, bin aber noch zwischen Berlin und Friesland gependelt. Mit Beginn der Pandemie bin ich in Friesland geblieben.

STANDARD: Die Welten, die Sie in Ihren Büchern beschreiben, sind abgesehen von ein paar E-Mails sehr analoge Welten. Was denken Sie über Algorithmen, Digitalisierung und künstliche Intelligenz?

Hermann: Soweit es mir möglich ist, bleibe ich zu Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Algorithmen auf Distanz. Ich nutze sie nicht und beschäftige mich wenig mit ihnen. Als ich Daheim geschrieben habe, gab es kein Internet im Haus, und ich fuhr einmal in der Woche mit dem Rad ins Dorfgemeinschaftshaus, um sieben E-Mails zu verschicken. Mittlerweile habe ich ein eigenes Internet und muss mich spürbar dazu zwingen, nicht ständig nachzusehen, wie grauenhaft und instabil die Lage der Welt ist. Ohne Internet gab es eine Selbstvergessenheit und Gegenwärtigkeit, nach der ich mich oft sehne, die aber vermutlich schlicht nicht mehr zuverlässig ist. Es ist nicht möglich, selbstvergessen zu sein, wenn die Dinge so stehen, wie sie stehen. Es kann sein, dass ich irgendwann viel aufzuholen habe.

Judith Hermann, "Wir hätten uns alles gesagt". € 23,– / 192 Seiten. S. Fischer, 2023.
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STANDARD: Haben Sie heute das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein?

Hermann: Nein, ich habe nicht das Gefühl, angekommen zu sein, und wenn ich es hätte, würde ich mich aus Aberglauben davor hüten, das auszusprechen. Ich meine, dass es eine finale Ankunft nicht geben kann, es gibt immer wieder Aufbruch, Veränderung, unerwartete Ereignisse. Aber im Moment fühle ich mich in Friesland sehr wohl. Ich vermisse Berlin nicht. Ich vermisse meine Familie, mein Kind und meine Freunde, und manchmal vermisse ich ein Kino mit einem guten Programm. Aber die Stadt an sich fehlt mir nicht im Geringsten.

STANDARD: Ein roter Faden, der sich durch Ihren Text der Poetikvorlesung zieht, betrifft die Aufbahrung eines Freundes, der gestorben ist. Über seinen Tod haben Sie nie geschrieben. Wie wichtig ist das, was ausgespart bleibt?

Hermann: Ich glaube, das, was ausgespart wird, ist das Herzstück des Textes, sein eigentliches Zentrum. In diesem seltsamen Parcours zwischen Zeigen und Verbergen schreibe ich vieles auf und nehme es dann wieder zurück, ich glaube an eine enigmatische Wahrnehmung von Text. Auch wenn Sätze und Bilder wieder gestrichen werden, bleiben Absicht und Intention spürbar. Sie leuchten nach – das ist etwas, worauf ich mich verlassen möchte. Ich schreibe, um die Dinge aufzuheben, zu zeigen, aber mehr noch will ich sie verbergen, im Sinne von: aufheben und schützen. Sie bewahren. Das Zeigen ist wichtig. Aber das Verbergen ist wichtiger.

STANDARD: Stehen Sie in irgendeiner Disziplin noch ganz am Anfang?

Hermann: Mein Mann hat von den Kindern eine Slackline geschenkt bekommen, eines dieser Seile, das man zwischen zwei Bäume spannt. Wir haben uns das für dieses Frühjahr vorgenommen – das Balancieren zu lernen, und wir sind sichtbar total am Anfang. Ich möchte nicht aufgeben – es ist eine schöne Vorstellung, auf dem Seil gehen zu können.

STANDARD: Mit dem Balancieren sind wir jetzt auch beim Buchstaben B gelandet. Danke für das Gespräch. (Mia Eidlhuber, 18.3.2023)