Verrückte Schicksale und Obsessionen: Adam Andrusier.

Foto: Jack Ladenburg

Da behaupte niemand, es gebe nichts Neues unter der Sonne der Literatur. Während sich im Coming-of-Age-Genre unüberschaubar viele heute tummeln und alle Spielarten dabei ausreizen, überrascht der Engländer Adam Andrusier mit einem – Coming-of-Autogramme-Band.

Vor 20 Jahre diente Andrusier, Jahrgang 1981, aus Pinner nordwestlich von London, Zadie Smith als Inspiration für ihren zweiten Roman Der Autogrammhändler, der vielen nicht wirklich geglückt erschien.

Volkstanz und Fotografie

Nun erzählt Andrusier seine Geschichte selbst. Und macht dies geistreich und mit exzeptioneller selbstironischer Souveränität. Er wuchs in einer jüdischen Familie auf, die laizistisch war. Die Ehe der Eltern tröpfelt vor sich hin. Der Vater, Versicherungsmakler von Beruf, ist leidenschaftlicher Sammler von Fotos jüdischer Synagogen in Osteuropa, die die Nazis nach 1939 zerstörten.

Ständig nimmt er auch alles mit einer Kamera auf, erstellt abwegige Fotomontagen, deren Witz sich einzig ihm offenbart. Zweites Großhobby: israelischer Volkstanz, den er exzessiv ausübt, wobei er auch an diesen Paartanzabenden immer wieder kurze Kabarettnummern präsentiert, die so schlecht sind, dass sich die anwesende Familie vor Scham windet.

Kultivierte Abneigung

Adams Mutter verstummt immer stärker, die Ehe hat ihren Kipppunkt schon länger überschritten. Die Großelternpaare ignorieren sich seit langem in kultivierter Abneigung. Adam wächst auf, verliebt sich, entliebt sich, studiert Musik in Cambridge, scheitert bei einem Ravel-Recital, womit der Traum von einer Solo-, überhaupt von einer Musikkarriere zerplatzt. Natürlich spielen Liebe und Freunde und Besäufnisse und sinnloses Zeittotschlagen durch sinnlos juvenile Handlungen eine Rolle.

Nach dem Studium rutscht er so zufällig wie ungeplant in die Szene professioneller Autogramm-, später der Autografenhändler. Mit elf, zwölf Jahren hatte er einst angefangen, Prominente abzufangen und sich von ihnen Autogramme geben zu lassen. Daher sind die einzelnen Kapitel auch nach Frank Sinatra und Clint Eastwood, Nelson Mandela und Boris Jelzin, Greta Garbo und englischen TV-Komikern, nach dem Film-Beau Richard Gere und dem Bond-Fiesling Richard "Beißer" Kiel benannt.

Andrusier reüssiert im Lauf der Jahre und baut sich eine mehr als solide bürgerliche Existenz auf – und fühlt sich dennoch immer ausdauernder als in reiner Routine steckend. Als Versorger manchmal recht unappetitlicher Obsessionen und noch haarsträubenderer Sammler empfindet er sich. Währenddessen bricht die elterliche Ehe endgültig auseinander. Der Vater hat eine viel jüngere italienische Freundin. Nach und nach sterben die Großeltern.

Adam Andrusier, "Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn". Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. € 24,70 / 320 Seiten. Unionsverlag, Zürich 2023.
Unionsverlag

Die halbe Wahrheit

Am Ende steht Andrusier, der einst mit den Unterschriften von Filmschauspielerinnen und -akteuren zu handeln begann, dies dann abbrach, in Südkalifornien auf dem Palomar Mountain, neben ihm ein Mann, der Jack Nicholson bis aufs Haar ähnelt. Andrusier bringt ihn zum Lachen, weil er einen der bekanntesten Sager aus Chinatown, dem Film mit Nicholson in der Hauptrolle, zitiert: Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich habe ein wenig gelogen.

Und färbt so auf der letzten Seite seinen Rapport kunstvoll anders ein. Denn: Was ist hier Erfindung, also Lüge? Und was war Leben?

England, glückliches Land. Denn woher nur kommen all diese Händler seltener antiquarischer Bücher, Autogramme und Autografen, die wie Adam Andrusier oder wie Rick Gekoski, Autor von Outside of a Dog, so famos und klug und mitreißend ironisch von exzentrischen Schicksalen, verbogenen Leben, abseitigen Obsessionen so leicht, so luftig erzählen können. Und am Ende, ach, auch so melancholisch: weil, wie Andrusier realisieren muss, das Selfie das Autogramm gekillt hat.

Ein Rätsel bleibt: Wieso deklariert der Unionsverlag dieses Buch als "Roman"? Weil es sich so besser verkauft als mit dem Untertitel "Lebenserinnerungen eines in Kontinentaleuropa außerhalb der Nische der Autogrammsammler praktisch unbekannten jüdischen Engländers, der über 40 ist"?

Presseagenten

In englischen Zeitungen wurde es in der Sektion "Memoiren und Autobiografisches" rezensiert. Dirk van Gunsteren hat es gut ins Deutsche übertragen. Nur: Kann bitte jemand den Verlagslektoraten mitteilen, dass der englische "publicist" selten den "Publizisten" meint, sondern viel öfters und eben auch in Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn die PR-Frau, der Presseagent so genannt wird? (Alexander Kluy, 18.3.2023)