Schriftsteller Peter Stamm.

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Pünktlich zu seinem 60. Geburtstag erschien im Jänner Peter Stamms achter Roman, und fast zeitgleich wurde in seiner Schweizer Heimat ein Dokufilm präsentiert, der ihn bei der Entstehung dieses Romans begleitet. Der Titel Wechselspiel könnte nicht vielsagender sein, denn im Roman geht es ebendarum: Über einen Schriftsteller, er heißt Richard Wechsler, soll ein Filmporträt entstehen.

Gedreht wird zunächst in Paris, wo Wechsler in einem kleinen Haus am Stadtrand lebt, zufrieden und zurückgezogen. Dass er nicht gerne über sich spricht und nichts über seine Beziehungen zu Frauen preisgeben will, macht ihn für die Filmemacherin Andrea besonders interessant. Sie beginnt über das Gesagte hinaus zu recherchieren. In Wechslers Schweizer Heimatdorf stößt sie auf Jugendfreunde, bekommt Geschichten hinter den Geschichten erzählt, und sie trifft Judith, die Frau, um die sich alles dreht und die Andrea aus Wechslers Romanen zu kennen glaubt. Aber kann so ein Zusammenspiel von Wirklichkeit und Fiktion überhaupt funktionieren? Wechsler entzieht sich der Darstellung seiner Biografie, er taucht am vereinbarten Drehort nicht mehr auf.

Genialer Filmschnitt

Genau hier bestimmt ein genialer Filmschnitt den Roman. Inzwischen, erfährt der Leser, ist viel geschehen: Wechsler ist tot, der Film wurde nicht mehr fertiggestellt, das Projekt abgebrochen. Aber das war noch lange davor. Seither hat Andrea ihren Job verloren, und mit Tom, dem Kameramann, ist sie auch nicht mehr zusammen.

Früher hätte man von Midlife-Crisis gesprochen, denn Andrea ist um die vierzig, und das gescheiterte Filmprojekt hat ihr Leben aus dem Takt gebracht. Aber sie ist zugleich die Erzählerin, es liegt an ihr, die Geschichte zu steuern. Sie ist sich nur nicht im Klaren, was sie in dieser Geschichte sein will.

Peter Stamm, "In einer dunkelblauen Stunde". € 24,70 / 256 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023.
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Wirklichkeitsgrenzen

Einmal sieht sie sich als Wechslers befugte Biografin, dann wieder fantasiert sie sich als dessen Geliebte, und gemeinsam mit Judith, der tatsächlichen Geliebten, wäre sie gerne Kuratorin eines fiktiven Wechsler-Museums. Beide fühlen sich berufen, dessen biografisches Erbe zu verwalten und neu zu erzählen. Immerhin, mit einer der Frauen hat Wechsler ein Verhältnis gehabt und sie in seiner Romanwelt verewigt; die andere hat es versäumt, eine klare Grenze zwischen Film und Wirklichkeit zu ziehen.

Peter Stamms Roman ist zugleich eine Selbstbespiegelung als Künstlerroman und eine Frauengeschichte mit viel Selbstbehauptung: Wir sind es, die Wechslers Leben schreiben, er ist unsere Figur! Diese Position wird dadurch verstärkt, dass Stamms Roman autofiktionale Züge trägt und gern mit der Frage spielt, wer hier wen erfunden hat und ob Bedeutung im wirklichen Leben oder erst im Roman zustande kommt. Ein schöner Kunstgriff übrigens, wie sich die Ebenen fortsetzen: Wo das Filmprojekt endet, geht die Erzählung weiter – und das, obwohl es das Objekt, Richard Wechsler, gar nicht darauf angelegt hat: "Die Nachwelt gibt es nicht, hat er einmal gesagt. Die Zukunft ist nur ein Tag." Was bleibt also vom Autor. (Gerhard Zeillinger, 19.3.2023)