Die Schuldnerberatung Wien betreute 2022 über 11.000 Klientinnen und Klienten – um 3.000 mehr als vor der Pandemie.

APA/dpa/Swen Pförtner

Mit einem dicken Aktenordner und einem Stapel loser Zettel kommt Herr M. zum Beratungsgespräch bei der Schuldnerberatung – unbezahlte Rechnungen aus seiner Selbstständigkeit. M. ist ein älterer Mann mit weißen Haaren, nicht besonders groß gewachsen und gut gekleidet. Im Beratungsgespräch ist er redselig, er nimmt seine Situation mit Humor. "Meiner Tochter habe ich damals eine Ausbildung im Sacré Coeur finanziert", erzählt er dem Berater. Doch dann ging es mit seiner Tischlerei bergab. Mit fast 70 Jahren möchte er seine rund 300.000 Euro Schulden nun begleichen.

Die Kombination aus Inflation und Pandemie hat viele Haushalte in Österreich über die finanzielle Schmerzgrenze gebracht, beobachtet man bei der Schuldnerberatung. Die Zahl der Neuanmeldungen liegt bereits elf Prozent über dem Niveau von 2019.

Überschuldung durch Einkommensverschlechterung

Über 10.000 Menschen in Wien geht es ähnlich wie Herrn M., zeigen die Zahlen der Schuldnerberatung Fonds Soziales Wien – und es werden immer mehr. 2022 wurden über 35.000 Beratungsgespräche durchgeführt, zu Jahresbeginn stieg die Anzahl der Neuanmeldungen um fast 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Hauptgrund dafür sind die Auswirkungen der Pandemie. Neben der Teuerung erlebten viele Menschen durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit eine unerwartete Einkommensverschlechterung. In den letzten Monaten liefen die Stundungen von Mieten und anderen Zahlungen aus – Zahlungsrückstände müssen nun beglichen werden.

Durch die Teuerung verursachte Überschuldung betreffe häufig sogenannte jüngere Schulden, heißt es bei der Schuldnerberatung. Jüngere Schulden sind Kredite oder Ratenzahlungen, die in den vergangenen Jahren vereinbart wurden und sich nun im Haushaltsbudget nicht mehr ausgehen. In 20 Prozent der Fälle ist dies laut dem Schuldenreport 2022 auf den Umgang mit Geld beziehungsweise inadäquate Budgetplanung zurückzuführen. Am häufigsten wird die Überschuldung durch Arbeitslosigkeit und/oder Einkommensverschlechterung (32 Prozent) ausgelöst.

Es sind vor allem Energiepreise, die die Menschen finanziell belasten.

"In den seltensten Fällen ist überbordender Konsum der alleinige Grund für die Überschuldung", sagt Bernhard Sell von der Schuldnerberatung des Fonds Soziales Wien. Stattdessen geben die meisten Betroffenen gerade so viel aus, wie sie verdienen. Jedes kleinste Ereignis könne dann dafür sorgen, dass Fixkosten oder Raten nicht mehr bezahlt werden können. "Momentan ist dieses Ereignis, das jetzt kommt, die Stromabrechnung", erklärt Sell weiter. Diese treibt die Menschen aus einer Verschuldung, in der alle Rechnungen und Kredite pünktlich bezahlt werden können, in eine Überschuldung.

Privatkonkurs als Ausweg

Der Grund für die hohe Konsumquote lässt sich ebenfalls durch einen Blick in den Schuldenreport erklären: Das Medianeinkommen der Klientel der Schuldnerberatung lag bei 1.300 Euro im Monat, fast die Hälfte hat einen Pflichtschulabschluss als höchste Ausbildung vorzuweisen. Damit liegt die Mehrheit der Überschuldeten mit ihrem Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze, die 2021 für einen Einpersonenhaushalt bei 1.371 Euro lag. Zudem sind 37 Prozent der Betroffenen arbeitslos. Diejenigen, die arbeiten, sind oft in unsicheren Arbeitsverhältnissen beschäftigt, Arbeitgeber wechseln häufig, heißt es bei der Schuldnerberatung.

So auch beim nächsten Beratungstermin. Der gelernte Autolackierer hat seit einem Jahr einen Job bei einer Putzfirma. Beim Aufrufen im Wartezimmer wird er als Nummer 33 bezeichnet, um anonym zu bleiben. Überschuldet ist er seit 30 Jahren – aufgrund von Unterhaltszahlungen und unbezahlten Rechnungen der Ex-Freundin, wie er sagt. Momentan lebt er im betreuten Wohnen, doch ihm ist anzusehen, dass er schon schwerere Zeiten hinter sich hat. Er ist hager, die Jacke ein wenig zu groß, Falten im Gesicht. Er möchte es jetzt zum wiederholten Male mit einem Privatkonkurs versuchen. Warum? Er wolle endlich rauskommen aus den ewigen Pfändungen von Gehalt und Urlaubsgeld, erklärt er dem Berater – lieber einmal so viel wie möglich zurückzahlen und dann neu starten können.

Fast 30 Prozent der Klientinnen und Klienten der Schuldnerberatung haben ein Einkommen unter dem Existenzminimum.
Foto: Image Images/Future image

Auch Herr M. bereitet sich auf einen Privatkonkurs vor. Dazu legt er jeden Monat 125 Euro seiner Pension auf die Seite. Er lebt bei seiner Tochter, beteiligt sich an den Fixkosten. Vermögenswerte besitzt er, abgesehen von einem verpfändeten Grundstück, nicht. Auch seine Situation ist bei der Schuldnerberatung keine Seltenheit: 17 Prozent aller Überschuldeten haben ihre Schulden aus einer gescheiterten Selbstständigkeit.

Keine neuen Schulden

Wenn alles gutgeht, können M. und Nummer 33 in wenigen Monaten in Konkurs gehen – drei Jahre später können sie schuldenfrei sein. Damit zählen sie in gewisser Hinsicht zu den Glücklichen unter jenen Personen, die momentan bei der Schuldnerberatung Hilfe suchen. "Es gibt viel mehr Überschuldete als Menschen, die dann tatsächlich im Privatkonkurs landen", erklärt Sell. Denn einen Privatkonkurs müsse man sich leisten können.

Das klingt absurd, ist aber tatsächlich so: Denn solange man noch neue Schulden macht, kann das Verfahren zur Schuldenregulierung nicht begonnen werden. Deshalb sei auch die Anzahl der Privatkonkurse momentan niedriger als im Vorjahresvergleich, sagt Sell. "Die Menschen können die existenziellen Zahlungen momentan einfach nicht leisten." Grund dafür seien vor allem die hohen Energiekosten. Die Schuldnerberatung konzentriert sich in dieser Situation darauf, die Menschen zu begleiten und Finanzpläne zu erstellen. Die Existenz der Menschen gehe vor, heißt es. Es sei dann einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt für den Privatkonkurs.

Die Strom- und Gasabrechnung des letzten Jahres bringt viele Haushalte aus dem finanziellen Gleichgewicht.
Foto: Imago/Christian Ohde

Bessere Bedingungen für Schuldner

Dass es mehr Menschen aus der Überschuldung in den Privatkonkurs schaffen, ist schon lange ein Anliegen der Schuldnerberatung. Besonders, weil das Existenzminimum von knapp 1.100 Euro im Monat viel zu niedrig ist, wie Sell betont: "Wenn Sie davon in Wien eine Miete zahlen, zahlen Sie 60 Prozent. Früher hat man gesagt, 30 Prozent für die Miete auszugeben ist gesund – jetzt sind wir bei 60." Existenzminimum bedeutet, dass Schuldner bis zu dieser Grenze gepfändet werden können; Gläubiger können beispielsweise Lohnpfändungen durchführen lassen. Sell stimmt deshalb auch der Forderung des Dachverbands ASB Schuldnerberatungen zu, das Existenzminimum zumindest auf die Höhe der Armutsgefährdungsschwelle anzuheben.

Um den Weg in den Privatkonkurs zu erleichtern, wurden in den letzten Jahren immer wieder Gesetzesnovellen durchgeführt. Sell zeigt sich besonders erfreut vom 2021 eingeführten dreijährigen Schuldenregulierungsverfahren ohne Mindestquote. Dies mache es leichter, überschuldeten Menschen eine Perspektive zu geben. (Magdalena Frei, 18.3.2023)