Abseits der heftigen Debatte um Filter (hier im Bild): Wer kann es sich leisten, bei der Creator-Economy nicht mitzumachen?

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Emily Durham ist eine erfolgreiche Karrieretrainerin aus Toronto. Auf ihrem Tiktok-Kanal gibt die 26-Jährige ihren 315.000 Followern Tipps, mit welchen Fragen man Personalern im Bewerbungsgespräch imponiert, ob ChatGPT das perfekte Bewerbungsschreiben verfassen kann und wie man am Wochenende am besten abschaltet. Im Plauderton spricht sie über Hustle-Culture und Motivationsprobleme, als würde sie ihrer besten Freundin davon erzählen.

Durham, die im Hauptberuf für den US-Softwarekonzern Intuit als Personalerin arbeitet, ist eine von vielen Karriere-Influencern. Ihre leicht verdaulichen Videos, die tausendfach geklickt werden, richten sich an junge Absolventen und Berufseinsteiger der Generation Z. Die schauen längst nicht mehr in Zeitungen oder Stellenportalen nach Jobs, sondern auf Plattformen wie Tiktok und Instagram.

In PR-Abteilungen ist die Erkenntnis da, dass sich mit Influencern mehr Reichweite als mit mancher Anzeige erzielen lässt. Influencer-Marketing ist fester Bestandteil der Unternehmensstrategie. Modelabels heuern Influencer für Werbekampagnen an, Fremdenverkehrsämter laden Tiktoker ein, um Sehenswürdigkeiten zu promoten.

Die Creator-Economy wächst immer weiter, mittlerweile soll es über 50 Millionen Creators auf der Welt geben, manche gehen gar von 200 Millionen aus: Blogger, Bookstagrammer, Streamer, es gibt die verschiedensten Genres. Die meisten betreiben ihre Accounts als Hobby, ein kleiner Teil generiert damit ein passives Einkommen: Zwölf Prozent der Vollzeit-Creators verdienen mehr als 50.000 Dollar im Jahr. Kein Wunder, dass junge Menschen heute nicht mehr Pilot oder Tierärztin als Berufswunsch Nummer eins angeben, sondern Influencer.

Mit Videos und Vibes überzeugen

Der Umstand, dass Karrieren in sozialen Netzwerken beginnen und geträumt werden, hat den Spielzeughersteller Nerf dazu veranlasst, einen eigenen Chief Tiktok Officer zu engagieren. Das Unternehmen, eine Marke des US-Spielzeugherstellers Hasbro, ist für seine Druckluftwasserpistolen bekannt, mit denen sich die Kinder der 90er einst epische Wasserschlachten im Freibad lieferten. Angehörige der Generation Z kennen die Wasserpistole vermutlich nur als Emoji-Zeichen. Um den Bekanntheitsgrad seiner Produkte beim jüngeren Publikum zu steigern, wollte Nerf sein Social-Media-Team prominent verstärken.

Die zunächst auf drei Monate befristete Stelle wurde standesgemäß auf Tiktok veröffentlicht. Von dem Stelleninhaber wurden zehn bis zwölf Videos pro Monat und "gute Vibes" erwartet. Verdienst: bis zu 10.000 Dollar im Monat und kostenlose Spielzeuge. Von den 1000 Bewerbungen, die auf die Ausschreibung eingingen, erhielt am Ende die College-Studentin Sophie Jamison den Vorzug, die im Netz unter dem Namen "Sophie Lightning" bekannt ist und auf ihrem Tiktok-Kanal täglich 2,1 Millionen Follower bespaßt. Natürlich war die Stellensuche auch eine PR-Aktion, denn die viral gegangene Jobbeschreibung war Werbung in eigener Sache.

Doch mit der Besetzung eines Chief Tiktok Officers unterstrich das Traditionsunternehmen auch die Bedeutung von Social Media. Nach der digitalen Stippvisite bei Nerf heuerte Sophie Jamison in selber Funktion beim Küchenhersteller Made By Gather an. Es genügte eine Direktnachricht, dann war die Sache klar. Der kurze Dienstweg ist im digitalen Raum noch kürzer.

Deinfluencer als Gegenbewegung

Solche College-Creators, die die Sprache der Generation Z sprechen, sind für Marken ein wichtiger Multiplikator, um Produkte bei der jüngeren Zielgruppe zu vermarkten. Unter dem Stichwort "Tiktok Content Creator Intern" finden sich in einschlägigen Jobportalen zahlreiche Praktikumsangebote und Studentenjobs. So suchte der Musik-Streamingdienst Deezer für sein Social-Media-Team am Standort Mexico City einen Werkstudenten, der den lateinamerikanischen Tiktok-Account bespielt (bewerben konnte man sich nur auf Tiktok).

Die Idee: Potenzielle Interessenten dort abholen, wo sie ohnehin schon sind. Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn mittlerweile gibt es auch sogenannte Deinfluencer, die mit ihren Accounts versuchen, den Einfluss von Marken zu begrenzen. Statt Produkte zu empfehlen, lassen sie gewissermaßen die Luft raus. So stellt zum Beispiel die Deinfluencerin Valeria Fridegotto, eine 22-jährige Studentin aus den USA, ihrem Publikum Beauty-Produkte vor, die aus ihrer Sicht überbewertet und überteuert sind.

Noch haben diese Anti-Influencer nicht die Reichweite, um Werbekampagnen zu torpedieren. Doch mit jedem Follower mehr wächst ihr Blackmail-Potenzial. Auch das müssen Unternehmen in ihrer Marketingstrategie bedenken. Denn auf Tiktok sind nicht nur die Angestellten und Kunden von morgen unterwegs, sondern auch die Konkurrenten und Gegner. (Adrian Lobe, 23.3.2023)