Allzu oft hat die Welt zugesehen, wie machthungrige Populisten eine Demokratie zerstören. In Israel stößt eine Regierung mit einem solchen Plan nun aber auf massiven Widerstand der Zivilgesellschaft. Die wochenlangen Demonstrationen gegen die Justizreform, die den Obersten Gerichtshof entmachten und die Richterschaft unter die Kontrolle der Regierung stellen soll, stimmen zwar hoffnungsvoll, aber setzen das Land auch einer Zerreißprobe aus, die in eine Verfassungskrise oder gar in Bürgerkrieg münden könnte. Für einen Staat, der seit seiner Gründung vor 75 Jahren stets von äußeren Feinden umgeben war, ist das eine tödliche Gefahr.

Netanjahus Justizgesetze sind eine Zerreißprobe für Israel. Die Zivilgesellschaft ist aufgebracht.
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Die Lage ist deshalb so verfahren, weil die rechteste Regierung in Israels Geschichte von ihren Plänen nicht lassen will und alle Kompromissvorschläge ausschlägt, während weite Teile der Gesellschaft – allen voran die intellektuelle, wirtschaftliche und auch militärische Elite – diesen Kurs nicht hinnehmen wollen. Sie fürchten um den demokratischen, säkularen und immer noch liberalen Charakter ihres Staates. Das Höchstgericht ist ihr Bollwerk gegen die Umwandlung Israels in eine Theokratie und gibt auch den Palästinensern gelegentlich Schutz vor der Willkür der Besatzung. Kein Wunder, dass die ultrareligiösen und nationalistischen Koalitionsparteien diese Institution entmachten wollen.

Premier Benjamin Netanjahu geht es hingegen ums Persönliche: Er will die Gerichtsverfahren stoppen, die ihn hinter Gitter bringen könnten. Deshalb peitscht er die Reform mit aller Gewalt rasch durch und wird dabei von seinen rechtsradikalen Partnern noch angefeuert. Die Kontrolle ist ihm inzwischen entglitten: Das Land ist im Aufruhr, und nicht nur US-Präsident Joe Biden, sondern auch jüdische Organisationen in den USA, die Israel sonst nie kritisieren, zeigen offen ihren Unmut. Die Achse mit Washington aber ist nicht nur Israels wichtigste Sicherheitsgarantie, sondern war auch Netanjahus bisher stärkstes Ass.

Wenn die Justizgesetze wie geplant von der Knesset verabschiedet werden, kann in Zukunft jeder Beschluss des Höchstgerichts mit einfacher Mehrheit aufgehoben werden. Voraussichtlich wird der Gerichtshof dieses Gesetz für verfassungswidrig erklären — und die knappe Regierungsmehrheit sich dann darüber hinwegsetzen. Dann gäbe es in Israel zwei Rechtsordnungen im offenen Konflikt miteinander und keine Instanz, die die Kluft überbrücken könnte.

Schon erklären Reserveoffiziere, dass sie den Befehlen einer illegitimen Regierung nicht mehr folgen würden, und Vertreter der so erfolgreichen Hightech-Industrie drohen mit dem Abzug ihres Kapitals und Know-hows. Von offener Gewalt wäre das Land dann nicht mehr weit entfernt.

Indessen nimmt die Gewalt zwischen fanatischen Siedlern und Palästinensern zu – angeheizt von radikalen Ministern. Nur Netanjahu kann das Land vor dem Absturz bewahren. Tut er es nicht, wird der Mann, der sich gerne als Garant der Sicherheit Israels bezeichnet, zu dessen größter Bedrohung. (Eric Frey, 17.3.2023)