Die Ukraine hat die Arbeit des Gerichtshofs akzeptiert, Russland nicht.

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Es gebe eine "hinreichende Grundlage für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden". Das teilte Karim Khan, der britische Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, vor etwas mehr als einem Jahr der Öffentlichkeit mit. Jetzt dürften sich die Beweise dafür weiter verdichtet haben. Wie am Freitag bekannt wurde, hat der IStGH einen internationalen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Was bedeutet das? Und welche Konsequenzen könnten Putin drohen?

VIDEO: IStGH-Präsident Piotr Hofmanski spricht von einem "wichtigen Augenblick im Prozess der
Gerechtigkeit." Für die Vollstreckung der Haftbefehle müsste man nun international zusammenarbeiten.
DER STANDARD

Frage: Was ist der Internationale Strafgerichtshof?

Antwort: Der IStGH ist nicht Teil der Vereinten Nationen, sondern ein eigenes internationales Gericht mit Sitz in Den Haag, Niederlande. Er wurde im Jahr 1998 auf Basis des Römischen Statuts gegründet und nahm seine Tätigkeit 2002 auf. Der Gerichtshof untersucht und verurteilt Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. Derzeit sind 123 Staaten Mitglied, nicht aber Russland und die Ukraine.

Frage: Ist der Gerichtshof dann überhaupt für den Krieg in der Ukraine zuständig?

Antwort: Ja. Zwar haben weder Russland noch Belarus oder die Ukraine das Römische Statut ratifiziert, der Chefankläger Khan stützt sich bei seinen Ermittlungen jedoch auf sogenannte Ad-hoc-Erklärungen der Ukraine, mit denen das Land Untersuchungen auf dem eigenen Staatsgebiet erlaubt hat. Die internationalen Ermittlerinnen und Ermittler können deshalb in der Ukraine tätig werden und Haftbefehle erwirken – so wie jetzt gegen Wladimir Putin.

Frage: Was wirft der Gerichtshof Putin vor?

Antwort: Im Fokus des Haftbefehls steht der Vorwurf, dass Russland Kinder vom ukrainischen Territorium nach Russland verschleppt hat. Es bestünden "vernünftige Gründe" für die Annahme, dass Putin "persönlich verantwortlich" sei. Haftbefehl wurde auch gegen die Kinderrechtsbeauftragte des Präsidenten, Maria Alexejewna Lwowa-Belowa, erlassen. Erst am Donnerstag hatte ein Bericht der Vereinten Nationen auf eine ganze Reihe von Gräueltaten russischer Soldaten verwiesen.

Frage: Wie reagieren Moskau und Kiew?

Antwort: Moskau hat den Vorwurf der illegalen Verschleppung von Kindern und den Vorwurf, dass russische Truppen gezielt Zivilistinnen und Zivilisten getötet haben, stets zurückgewiesen. In einer ersten Reaktion sagte Russland, dass der Haftbefehl "keine Bedeutung" habe. Der ukrainische Generalstaatsanwalt bezeichnete die Entscheidung indes als "historisch".

Frage: Wenn Russland den Strafgerichtshof nicht akzeptiert, gibt es dann überhaupt Handhabe gegen den russischen Präsidenten?

Antwort: Der Gerichtshof kann zwar ermitteln und Haftbefehle erlassen – sogar gegen Regierungschefs und Staatsoberhäupter, die normalerweise als immun gelten. Er kann diese Haftbefehle aber derzeit nicht in Russland vollstrecken. Der Strafgerichtshof kann Personen grundsätzlich auch nicht in Abwesenheit verurteilen. Für Putin hat der Haftbefehl dennoch Konsequenzen.

Frage: Welche denn?

Antwort: Es gäbe zwei Möglichkeiten, Putin festzusetzen: ein Regimewechsel, der dazu führt, dass Putin von seinen eigenen Landsleuten ausgeliefert wird, oder eine Auslandsreise, auf der Putin festgenommen wird. Putin wird bei internationalen Reisen künftig stark eingeschränkt sein. Landet er in einem der 123 Staaten, die den Gerichtshof akzeptieren, könnte er festgenommen und nach Den Haag überstellt werden. Der IStGH kann je nach Schwere des Verbrechens lebenslange Freiheitsstrafen verhängen.

Frage: Gab es schon einmal einen ähnlichen Fall?

Antwort: Im Fall des sudanesischen Diktators Omar al-Bashir erließ der IStGH 2009 erstmalig einen Haftbefehl gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt. Die Bereitschaft zu dessen Übergabe durch den Sudan wurde aber erst mehr als zehn Jahre später in Erwägung gezogen – nach dessen innenpolitischem Sturz. Ob es bei Putin jemals dazu kommen wird, bleibt offen. Ein Haftbefehl gegen den Präsidenten einer Atommacht wie Russland ist bisher jedenfalls einmalig.

Frage: Was bringen die Ermittlungen des Gerichtshofs, wenn man Putin nur schwer festsetzen wird können?

Antwort: Die Ermittlungsarbeit des Gerichtshof ist schon deshalb wichtig, weil sie dabei hilft, Kriegsverbrechen aufzuarbeiten und den Opfern zumindest ein Stück weit Klarheit zu verschaffen. Dazu kommt internationale Ächtung. Politikerinnen und Politiker anderer Nationen werden wohl zum Teil davor zurückschrecken, sich mit einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, gegen den ein Haftbefehl erlassen wurde, abzulichten. (Jakob Pflügl, 17.3.2023)