Was sehen die da rechts drüben? ÖVP-Chef Karl Nehammer und die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner schauen – vom Publikum, also den Wählerinnen und Wählern aus beobachtet – nach rechts. Und das ist kein Zufall.

Das Bild entstand am 30. April 2022 beim Landesparteitag der ÖVP Niederösterreich in St. Pölten.

Foto: APA / Tobias Steinmaurer

Eine Woche nach der "Rede zur Zukunft der Nation" von Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer und ein Tag nach der Präsentation der schwarz-blauen Regierung in Niederösterreich drängt sich ein genauerer Blick auf die politische Reiseroute der Volkspartei auf. Wo will sie hin? Und noch wichtiger: Wer soll künftig als Beifahrerin mit dabei sein? Wen will man im Fond mitnehmen? Denn so viel ist sicher: Politisch ist Car-Sharing das Modell der Stunde oder schlicht das einzig realistische Modell. Alleine am Steuer – also eine Alleinregierung – wird es nicht spielen. Bleibt die Frage, mit wem will oder hofft man, sich am ehesten auf gemeinsame Reiseziele einigen zu können, die man dann nach Möglichkeit möglichst streitarm anfahren und abhaken kann.

Momentan gilt für die Österreich-Rundfahrt mit Kanzler Nehammer am Steuer noch die Streckenführung im Navigationsgerät, die gemeinsam mit den Grünen eingegeben wurde. Er ist – natürlich, möchte man nach seiner "Zukunftsrede", in der er Österreich zum "Autoland schlechthin" erklärt und seine Liebe zum "Verbrenner" deponiert hat, sagen – im Verbrenner unterwegs. Noch geht das ja. Zielankunft, wenn alles plangemäß verläuft: Herbst 2024. Ziel: Nationalratswahl. Dann werden sich neue Reisegemeinschaften finden müssen, mit neuen Etappenzielen.

Politisches Car-Sharing

Da drängt sich dem geneigten – und noch mehr dem weniger geneigten – Publikum derzeit der Eindruck auf, dass der rechte Blinker in den ÖVP-Automobilen recht häufig und demonstrativ zum Einsatz kommt. Von Nehammer in seiner "Zukunftsrede", aber auch ganz aktuell von seiner niederösterreichischen Parteikollegin Johanna Mikl-Leitner, die sich nun den ihr eigentlich in herzlicher Abneigung verbundenen FPÖ-Landeschef Udo Landbauer auf den Beifahrersitz geholt hat. Auf deren Rückbank darf – oder muss, je nach Perspektive und dank Proporzsystem – SPÖ-Landeschef Sven Hergovich den fünfjährigen Trip durch Niederösterreich mitmachen.

Programmatisch lassen sich zwischen Nehammers Rede und Mikl-Leitners schwarz-blauem Koalitionspakt unschwer einige Parallelen erkennen: Ein Lieblingsthema, ein politischer Marker, der bei beiden zum Einsatz kam, ist Corona. Der ÖVP-Chef will einen "Versöhnungsprozess" starten, Mikl-Leitner mit ihrem Kompagnon Landbauer 30 Millionen in einen Corona-Fonds schütten und damit pandemiebedingte "Gräben schließen" – inklusive des Versprechens, keine Werbung mehr für die Covid-Impfung zu machen. Nehammer wandte sich an die "besitzende Klasse", Mikl-Leitner beschwor das "Land der Eigentümer". Mehr Sach- statt Geldleistungen für Asylwerberinnen und Asylwerber stehen in Wien wie in St. Pölten auf der schwarzen Wunschliste. Und – ganz großes Thema – gegen Sternchen, Doppelpunkte, Binnen-Is und andere gendergerechte Sprachformen haben Nehammer und Mikl-Leitner sowie ihr freiheitlicher Partner Landbauer eine so große Aversion, dass der eine es rhetorisch, die anderen schriftlich festgehalten haben, dass sie das nicht wollen. Auf keinen Fall. Man spricht so, wie man immer gesprochen hat.

Strategisch steht die ÖVP gut da

Also traute Einigkeit in der rechten Hemisphäre der Nation? Wir holen uns als Beifahrer Peter Filzmaier, der die Straßenkarte der Wägen vor uns aus den beobachtbaren Lenkmanövern ableiten kann. Die aktuellen Fahrmanöver der Volkspartei beschreibt der Politikwissenschafter so: "Die ÖVP liegt natürlich noch viele Kilometer hinter dem Wahlergebnis von 2019, doch rein strategisch ist sie von allen Parteien in der besten Position. Sie kann nach rechts blinken in Richtung FPÖ, sie kann halb links fahren zur SPÖ, wenn es sich ausgeht, sie kann sich aber auch im Dreier-Kreisverkehr bewegen und Fahrgäste aus unterschiedlichen Ausfahrten aufnehmen. Denn sollte der Bundespräsident nach der Wahl versuchen, eine Dreiervariante zu forcieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich eine – um im Bild zu bleiben, wenn auch farbtechnisch nicht ganz korrekt – Dreier-Ampel nur mit der ÖVP ausgeht. So gesehen ist die ÖVP im Moment in der besten Situation", sagt Filzmaier.

Das wurde in Niederösterreich gerade exemplarisch vorgeführt. Wo, wenn nicht im Land der Kreisverkehre, 434 sind amtlich dokumentiert, und das sind nur die auf Landes- und Bundesstraßen. Da hat Mikl-Leitner zwar kurz halb links geblinkt, ist mit der SPÖ eine Runde im Kreisverkehr gefahren, hat dann aber doch die Ausfahrt zur FPÖ genommen, wenngleich das politisch eine Sackgasse war, weil nur noch diese Möglichkeit blieb, um selbst Landeshauptfrau zu bleiben. "Das kann auch im Bund so sein", erklärt Filzmaier.

Bitte rechts einsteigen!

Um im motorisierten Bild zu bleiben: "Wenn sich die Steuerleute im ÖVP-Bus fragen: ,Wo steigen die Leute aus und wo meistens ein?', dann ist die ÖVP da, was sie bei Kurz als Erfolgsrezept hatte. Mag sein, dass ein paar bürgerlich-liberale Wählerinnen und Wähler zu den Neos aussteigen, aber deswegen die Tür für die, die von rechts kommen, geschlossen zu halten, macht wenig Sinn. Da ist uns die rechte Tür wichtiger", erklärt Filzmaier.

Strategisch sei die ÖVP jetzt also ein einer "guten Verkehrsposition", zumal die FPÖ "froh sein muss, wenn überhaupt jemand an ihrer Haltestelle stehen bleibt und sie mitnimmt, also mit ihr koaliert." Das "Restrisiko", dass die FPÖ ohne Parteichef Herbert Kickl, der für viele das personifizierte Hindernis für eine Regierungszusammenarbeit im Bund ist, mit der SPÖ zusammengehen könnte, hält Filzmaier für sehr überschaubar, die Denkvariante, dass die FPÖ mit Kickl die SPÖ, die nach einer Wahl hinter ihr liegen könnte, ins Kanzleramt hievt, nur um selbst mitregieren zu dürfen, für ausgeschlossen. Die SPÖ wäre dann also auch auf die ÖVP angewiesen, um eine Regierung bilden zu können.

"Die ÖVP hat sich gut positioniert, noch dazu, wo es den Landesparteien und Bünden völlig wurscht ist, ob die Volkspartei den Kanzler am Steuer stellt oder als beifahrender Vizekanzler an Bord ist. Die sagen: Wir wollen die Wirtschaft, Finanzen und natürlich Landwirtschaft. Ob Kanzler oder Vizekanzler, ist da nicht so wichtig." Hauptsache in der Regierung: "Man hat auch als Vizekanzlerpartei gut gelebt."

Die Liberalen sind ohnehin schon längst ausgestiegen

Die Taktik der ÖVP beschreibt der Politologe so: "Sie macht nur die Tür auf, um von rechts Leute hereinzuholen. Die Leute, die sich als (links-)liberal oder bürgerlich verstehen, sind durch den Kurz-Kurs sowieso schon weg beziehungsweise ausgestiegen. Jeder und jede Linksliberale oder Bürgerlich-Liberale, der oder die sich fragt: Gibt es etwas, das die ÖVP tut, damit ich zurückkommen, wird antworten: Nein. Das weiß aber auch die ÖVP. " Sie habe sich "offenbar entschieden, die Rechnung ist bei Kurz aufgegangen, das, was wir an Bürgerlich-Liberalen verloren haben, kriegen wir eh nicht zurück, egal, was wir tun würden." Das Hauptziel sei also, "dass nicht noch mehr Leute aussteigen auf der rechten Seite".

Ein Ziel habe die Volkspartei schon erreicht: "Es ist ihr gelungen, den freien Fall auf Bundesebene von fast 40 Prozent auf unter 20 Prozent zu stoppen. Wenn sie sich jetzt bei Mitte 20 Prozent stabilisiert. kann sie sich sagen: Dann bin ich im Spiel, dann wird eine Regierungsbildung an uns vorbei kaum möglich sein. Allerdings mit vielen Unwägbarkeiten, etwa ob es zu Anklagen kommt." Vor vier Jahren kamen die damals noch Türkisen unter Sebastian Kurz auf 37,5 Prozent nach einem Zugewinn von sechs Prozentpunkten. Aktuell weisen die Umfragen für die nicht mehr "neue" Volkspartei an die 22 Prozent aus. Filzmaier: "Obwohl sie unverändert in einer tiefen Krise ist, liegt sie, was ihre Zukunftsperspektive betrifft, nicht so schlecht."

Insgesamt wurde die ÖVP nicht "rechter"

Bleibt die Frage: Ist die ÖVP insgesamt, egal, ob sie nun schwarz oder türkis ist, "rechter" geworden als noch vor, sagen wir, einem Jahrzehnt? Das lasse sich so nicht so eindeutig sagen, erklärt Filzmaier, wenngleich es "mehrere Verstärkungen auf der rechten Themenseite gab", aber, betont der Politikprofessor den Balanceakt, den die Partei gerade mit Blick nach innen vollführen muss: "Wir erleben eine Zeit massiver staatlicher Eingriffe, pandemiebedingt, kriegsbedingt, die die ÖVP mitträgt. Da stimmt die Zuschreibung ,rechter' nicht. Das ist unzweifelhaft ,mehr Staat', den sie auch mitträgt."

Aber bei dem einen Thema, das am meisten polarisiere, der Migration, der Ausländerfrage, habe die ÖVP "mehrere Schritte einer bewussten Verrückung nach rechts vollzogen – und das schon in Regierungen mit der SPÖ", betont Filzmaier: "Ein weiterer Schub kam 2015 mit der großen Flüchtlingsbewegung und danach, als die FPÖ in den Ländern gewonnen hat. Kurz wollte die FPÖ rechts überholen. Motto: ,Jetzt müssen wir's aber wirklich machen.' Im Lockdown war Migration naturgemäß weniger dominant als Thema, aber die ÖVP kehrt immer wieder zu diesem Thema zurück, das wiederholt sich in gewisser Weise, allerdings im Wissen, dass man eben nicht weiß, ob es funktioniert", fügt Filzmaier hinzu. Bei Kurz habe es geklappt, mit dem Thema Migration zwei Wahlen zu gewinnen – "wobei die Kurz-Erfolge in einer Zeit waren, wo das Migrationsthema gar nicht mehr Nummer eins war, 2015 schon", sagt Filzmaier: "Ob es funktioniert, wird die nächste Wahl zeigen."

Der "Dodel", der für uns arbeiten soll

Bis dahin fahre die ÖVP "ganz gut mit Blinken nach rechts, dann wieder nach halb links und wieder nach rechts. Nur: Gleichzeitig nach links und rechts lenken wird schwierig", warnt Filzmaier und nennt als Beispiel die Bedürfnisse der Wirtschaft, die von der ÖVP eine Lösung für den akuten Fachkräftemangel erwartet – "und dann will sie gleichzeitig die Grenzen dicht machen oder den dringend benötigten Fachkräften fünf Jahre lang nur die halbe Höhe der Sozialleistungen auszahlen? Was sollen die denn denken? Warum sollte ein ausländischer IT-Spezialist, der verzweifelt gesucht wird, da kommen? Der wird viel eher sagen: Ich mache euch doch nicht fünf Jahre lang den Dodel, wenn ich mit meiner Familie komme. Da sind noch viele Unlogiken drin", warnt der Politikwissenschafter. (Lisa Nimmervoll, 18.3.2023)