Lautpoet Michael Lentz widersetzt sich in seinem neuen Gedichtband "Chora" den vorschnell festgelegten Bedeutungen.

Victor Pattyn

Jede Beschäftigung mit der altgriechischen Chora rührt an geheimnisvolle Kräfte. Ursprünglich mit "Raum" oder "Unterleib" übersetzt, meint das Wort einen pulsierenden Anstoß, der die Ordnung der Sprache – wie unter dem Eindruck eines Schütteltraumas – in Stress versetzt. Wer im Bann von Chora spricht, benennt die Dinge aufreizend anders, konfiguriert sie neu, schwimmt mit im niemals stillstehenden Fluss der Bedeutungen. Chora heißt der neue Gedichtband des 58-jährigen Dichters Michael Lentz: ein Buch, wie es seinesgleichen kein zweites bisher gibt in den 2020er-Jahren.

Lentz’ letzte Artikulation war die eines hochgelehrten Autors. Der Romanziegel Schattenfroh. Ein Requiem (2018) umfasste mehr als tausend Seiten. Er bildete die Frucht der Auseinandersetzung mit der symbolischen Ordnung der Dinge – der "Vatersprache". Das Werk wollte geduldig mit Bleistift und Zettel erkundet sein: ein in den genagelten Schuhen der Semiologie besonders gut zu besteigendes Zentralmassiv. Schattenfroh wetteiferte mit den auf Klangschichtungen und vielfachem Schriftsinn beruhenden Typoskripten Arno Schmidts.

Im "Haus der Sprache"

Die bundesdeutsche Szene hatte Lentz viel früher betreten, jedes Mal triumphal: als Poeta doctus, der die Geschichte der Lautpoesie in zwei schwergewichtige Bände hineingestopft hatte. Dada-Vater Kurt Schwitters gibt bis heute einen von Lentz’ Hausheiligen ab. Sein Glück als Lyriker machte der charakteristisch kahlköpfige Verehrer Ernst Jandls ausgerechnet mit einem Band Neue Anagramme (1998): gewitzte Proben einer Kunst der Letternkehr. Wobei durch sinnfällige Vertauschung der immer gleichen Buchstaben aberwitzige neue Sinnverkettungen entstanden waren.

In Chora führt Lentz den Leserinnen und Lesern, gewiss auch in tapferer Stellvertretung für sie alle, das Dilemma der Sprachwerdung erneut vor Augen. Die Beschränkung auf den Minihaushalt an Zeichen enthält zugleich den Hinweis auf den ominösen Anfang. Denn im "Haus der Sprache" ist nicht bloß schön wohnen: "die stimme ist das haus der kindheit / das haus der kindheit ist verkauft."

Lentz schreibt in Kleinbuchstaben, wie viele Experimentelle vor ihm. Die Ursymbiose zwischen Mutter und Kind bildet den Ausgangspunkt für wendungsreiche Langgedichte. Vom Nullpunkt der Schöpfung aus entfaltet Lentz sein effektvolles Theater der Worte. "Chora" meint ursprünglich die platonische Urmaterie: den noch nicht zur Sprache gebrachten, zu keiner sinnfälligen Gestalt verkneteten Stoff.

Die Verse gleiten

Sich selbst zu gleichen, indem man den Vatersnamen annimmt und zugleich die Muttersprache spricht: Dergleichen Prozesse sind uns Menschen, die wir uns vorgegebener Sprachzeichen bedienen müssen, auferlegt. Lentz’ Gedichtbuch in sieben Kapiteln gleicht einem unmöglichen Reparaturversuch: Er flickt herum an jener Nahtstelle, die uns, wie alle Dinge, von unserer Bezeichnung trennt. Das außerordentliche Gelingen von Chora verdankt sich einem unerschöpflichen Verknüpfungswillen. Lentz bringt die Verse unaufhörlich zum Gleiten, Schmelzfließen, zum augenblicklichen Leuchten und Changieren.

Er beschreibt meisterlich den "Echobefall", von dem alle vorschnell festgelegten Bedeutungen geplagt werden. Er klappert Mutter, Vater, Bruder ab, und er erweist "Oma" die Reverenz ("der genüge steifrock"). Er verfasst Anagramme, die in solcher Qualität seit Oskar Pastior niemand besser zustande gebracht hat. Er macht vor dem deutschen Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt im Tone Klopstocks den Diener. Lentz weiß: "ich werde alt und ringsum klaffen die hunde." Das ist einigermaßen genial gebellt. (Ronald Pohl, 20.3.2023)