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DER STANDARD

Sewastopol – Erstmals seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine habe Kremlchef Wladimir Putin die besetzten Gebiete des Nachbarlands besucht. Wie der Kreml in der Nacht zum Sonntag mitteilte, habe Putin der in schweren Kämpfen zerstörten Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer einen "Arbeitsbesuch" abgestattet. Das russische Staatsfernsehen zeigte den 70-Jährigen am Steuer eines Autos beim Fahren durch die nächtliche Stadt. Zu sehen waren auch Zerstörungen an Gebäuden.

Nach seiner Ankunft in einem Hubschrauber habe er sich bei einer Rundfahrt über die Lage informiert und sich auch mit Bewohnern der Stadt unterhalten, teilte der Kreml weiter mit. Russlands stellvertretender Regierungschef Marat Chusnullin habe Putin über den Stand der Wiederaufbauarbeiten informiert. "Die Menschen beginnen, in die Stadt zurückzukehren", sagte Chusnullin auf dem Beifahrersitz. In Mariupol gebe es wieder Straßenbeleuchtung und Busverkehr.

Gezeigt wurden im russischen Staatsfernsehen etwa Aufnahmen Putins am Steuer eines Autos beim Fahren durch die nächtliche Stadt.
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Das Staatsfernsehen zeigte dem Bericht zufolge auch den Besuch Putins in der Philharmonie der Stadt, wo der Präsident auf einem Stuhl in einem Saal Platz nahm. Nach Darstellung Chusnullins ist zudem ein Universitätsgebäude samt Studentenwohnheim intakt. Gezeigt wurden auch Bürger, die Putin für den unangekündigten Besuch dankten.

Nach Kremlangaben führte Putin in der russischen Stadt Rostow am Don nahe der Ukraine zudem eine Sitzung in einer Kommandostelle für die "militärische Spezialoperation" gegen die Ukraine, wie der Krieg in Russland offiziell genannt wird. Dort ließ sich der Präsident von Kommandeur Waleri Gerassimow, der auch Chef des russischen Generalstabs ist, und anderen Offizieren über den Gang der Kampfhandlungen in dem Nachbarland unterrichten.

"Zynismus und mangelnde Reue"

Die ukrainische Regierung verurteilte den Besuch scharf. "Verbrecher kehren immer an den Tatort zurück", schrieb der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Michailo Podoljak, am Sonntag auf Twitter. "Der Mörder von Tausenden von Familien in Mariupol kam, um die Ruinen der Stadt und ihre Gräber zu bewundern. Zynismus und mangelnde Reue", fügte er hinzu.

Das ukrainische Verteidigungsministerium erklärte, Putin habe die durch russische Bombardements weitgehend zerstörte Stadt im Schutze der Nacht besucht, "so wie es sich für einen Dieb gehört". Die Dunkelheit habe es ihm ermöglicht, die Stadt "und ihre wenigen überlebenden Einwohner vor neugierigen Blicken" zu schützen.

Auch der Exil-Stadtrat von Mariupol erklärte, Putin habe die Stadt offenbar bei Nacht besucht, "um die durch seine 'Befreiung' vernichtete Stadt nicht bei Tageslicht zu sehen". Der Stadtrat bezeichnete den russischen Präsidenten als "internationalen Verbrecher". Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hatte am Freitag einen Haftbefehl gegen Putin erlassen.

Besuch auf der Krim

Putin hatte am Samstagnachmittag die 2014 annektierte ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim besucht. Das Staatsfernsehen verbreitete zum 9. Jahrestag der Einverleibung Bilder, auf denen der Kremlchef wiederum selbst am Steuer eines Autos und bei der Eröffnung einer Kunstschule für Kinder in der Hafenstadt Sewastopol zu sehen war.

Russland war laut Putin nach der Annexion der Krim 2014 nicht für einen großen Krieg gegen die Ukraine gerüstet. "Wir hatten damals keine Hyperschallwaffen, aber jetzt haben wir sie", sagte Putin in einem am Sonntag veröffentlichten Interview des russischen Staatsfernsehens. "Es gibt auch noch andere moderne Systeme, 2014 gab es noch nichts Vergleichbares", sagte er und behauptete erneut, Russland habe den Konflikt um die Ukraine damals friedlich lösen wollen. "Wir müssen sehr viel tun – etwa für die Entwicklung der Bodentruppen", sagte Putin auf eine Frage zu den Lehren aus dem Krieg, den er am 24. Februar 2022 gegen die Ukraine begann.

Russland hatte den Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar des Vorjahres begonnen. Mariupol wurde von russischen Truppen belagert und geriet erst am 20. Mai unter vollständige Kontrolle des russischen Militärs. Die Stadt wurde während der Kämpfe weitgehend zerstört. Die Ukraine kündigte an, Mariupol zu befreien.

Keine große Zielerreichung

Russland ist sich nach Einschätzung britischer Geheimdienste wahrscheinlich bewusst, dass es einige seiner großen Ziele in nächster Zukunft nicht erreichen wird. Das zeige sich etwa daran, dass die Behörden in dem von Russland kontrollierten Teil des Gebiets Saporischschja Anfang März Melitopol zur Hauptstadt des Gebiets erklärt hätten, hieß es in einem Tweet des britischen Verteidigungsministeriums am Sonntag.

Laut Russland sei dies eine vorübergehende Maßnahme, bis die Stadt Saporischschja komplett unter Kontrolle gebracht sei.

Kriegsbeteiligung durch US-Drohnen behauptet

Überwachungsflüge von US-Drohnen über dem Schwarzen Meer belegen aus russischer Sicht eine direkte Verwicklung der USA in den Krieg in der Ukraine.

"Es ist ganz offensichtlich, was diese Drohnen machen, und ihr Auftrag ist keineswegs ein friedlicher Einsatz zur Gewährleistung der Sicherheit der Schifffahrt in internationalen Gewässern", sagt Regierungssprecher Dmitri Peskow nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax. "In der Tat sprechen wir über die direkte Beteiligung der Betreiber dieser Drohnen an dem Konflikt, und zwar gegen uns."

Drei tote Zivilisten nach russischem Beschuss

In einem frontnahen Dorf im Gebiet Saporischschja wurden am Sonntag durch einen russischen Artillerieangriff nach Angaben ukrainischer Behörden drei Zivilisten getötet. .Zwei Menschen seien verletzt worden, teilte die Gebietsverwaltung über Telegram mit. Den Angaben nach wurde das Wohnhaus im Dorf Kamjanske von Geschoßen eines Mehrfachraketenwerfers Grad (Hagel) getroffen. Das Dorf liegt nahe des Flusses Dnipro nur wenige Kilometer von russischen Stellungen entfernt. Die ukrainische Verwaltung rief die Menschen auf, solche gefährlichen Gebiete zu räumen. (APA, dpa, 19.3.2023)