Im Gastblog erklärt Anwalt Helmut Graupner, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jede unterschiedliche Behandlung für unzulässig erklären, die alleine auf Erwägungen in Bezug auf sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität beruht.

Der Obmann der Wiener FPÖ, Dominik Nepp, fordert ein "Verbot von Drag-Queen-Shows für Kinder" und spricht von "Sexualisierungspropaganda für kleine Kinder" und davon, dass diese "zu einer sexuellen Orientierung gedrängt" würden. In einem von der FPÖ einberufenen Sonderlandtag soll das Verbot in das Wiener Jugendschutzgesetz aufgenommen werden. Nepp fordert das Verbot zudem auch für alle anderen acht Bundesländer ("ganz Österreich").

Worum geht es? Dragqueens sind Männer, die in künstlerischer oder humoristischer Absicht durch Aussehen und Verhalten eine Frau darstellen. Viele Dragqueens sehen in ihrem Auftreten ein sozialpolitisches Statement. Sie möchten der Gesellschaft die Vielfalt menschlicher Beziehungen und Geschlechtsidentitäten aufzeigen. Dass es nicht nur verschiedengeschlechtliche Paarbeziehungen gibt, sondern auch gleichgeschlechtliche und abseits von männlich und weiblich auch nichtbinäre Geschlechtsidentitäten. Und dass alle diese Formen menschlicher Beziehungen und Identitäten gleichermaßen Respekt und Akzeptanz verdienen.

Candy Licious liest Kinderbücher vor, in denen es in kindgerechter Sprache um die Vielfalt des Lebens und der Menschen geht. Die FPÖ möchte das verbieten.
Foto: APA/Julian Poeschl

Stein des Anstoßes für die FPÖ sind nun Kinderbuchlesungen der Dragqueen Candy Licious, die in Buchhandlungen aus Kinderbüchern vorliest, in denen es in kindgerechter Sprache in mehrfacher Hinsicht um die Vielfalt des Lebens und der Menschen geht, darunter unter anderem (aber nicht mehrheitlich) um gleichgeschlechtliche Liebe und Geschlechterrollen. Beispielsweise um einen Prinzen, der viele Prinzessinnen vorgestellt bekommt und am Ende einen Prinzen nimmt. Und um einen Frosch, der gerne Ballett tanzen möchte, oder um einen Jungen, der gerne Fußball, aber auch gerne mit Puppen spielt und manchmal gerne Mädchenkleidung anzieht. Kinder erfahren dadurch, dass das Leben bunt ist, "Anderssein" nichts Schlimmes bedeutet und dass Menschen, die anders aussehen oder l(i)eben, nicht ausgegrenzt werden sollen. Die Lesungen sind für alle ab fünf Jahren zugänglich, Kinder selbstverständlich nur in Begleitung ihrer Eltern. An keiner Stelle wird Sexualität thematisiert oder gar dargestellt.

Botschaft von Respekt und Toleranz

Niemand, auch nicht aus der FPÖ, ist bisher auf die Idee gekommen, als jugendgefährdend gesetzlich zu verbieten, dass Kinder und Jugendliche als Frauen verkleidete Männer sehen können, und damit beispielsweise zahllose Faschingsveranstaltungen und -umzüge zu untersagen. Der Ruf nach einem Verbot kinderbuchlesender Dragqueens erfolgt vielmehr deshalb, weil sie damit Kindern die Botschaft von Respekt und Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe und anderer Geschlechtsidentitäten nahebringen. Würden als Frauen verkleidete Männer Kindern vermitteln, dass Liebe und Partnerschaft zwischen Personen des gleichen Geschlechts sowie nicht geschlechtsrollenkonformes Verhalten keine oder weniger Akzeptanz verdienen und heterosexuelle Partnerschaften sowie die Einhaltung traditioneller Geschlechtsrollen ethisch wertvoller sind, hätte Dominik Nepp vermutlich wenig dagegen einzuwenden.

Gegen derartige Ungleichbehandlung stehen jedoch die österreichische Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der österreichische Verfassungsgerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erklären seit fast einem Vierteljahrhundert jede unterschiedliche Behandlung für jedenfalls unzulässig, die alleine auf Erwägungen in Bezug auf sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität beruht.

Jugendschutz unabhängig von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität

Konkret zu Kinder- und Jugendschutz haben der EGMR wie auch der Uno-Menschenrechtsausschuss und der Uno-Kinderrechteausschuss das gesetzliche Verbot von "Werbung für Homosexualität und andere nichttraditionelle sexuelle Beziehungen unter Minderjährigen" in der Russischen Föderation für menschenrechtswidrig erklärt. In seinem Urteil von 2017, das nahezu einstimmig erging (nur der russische Richter stimmte dagegen), stellte der Gerichtshof fest, dass ihm keine wissenschaftlichen Belege dafür bekannt sind, dass die Thematisierung von Homosexualität oder eine offene öffentliche Diskussion über den sozialen Status sexueller Minderheiten sich auf Kinder nachteilig auswirken würden (Baev v Russia 2017 par. 77). Insbesondere war die russische Regierung nicht in der Lage, ihre Behauptung, sexuelle Orientierung wäre durch äußere Einflüsse beeinflussbar, wissenschaftlich zu belegen (par. 78).

Schutz vor Missbrauch und schädlichen Einflüssen, beispielsweise durch sexuelle Handlungen oder Verbreitung von Pornografie, muss Minderjährigen unabhängig von der sexuellen Orientierung, gleichermaßen hinsichtlich heterosexueller wie hinsichtlich homosexueller Beziehungen, gewährt werden, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Annahme, Minderjährige würden durch homosexuelle Beziehungen mehr gefährdet als durch heterosexuelle, sei nichts anderes als ein unbegründetes Vorurteil (par. 79).

Der EGMR betonte, dass Botschaften, die weder falsch noch sexuell explizit oder aggressiv sind, keine Jugendgefährdung darstellen. Ganz im Gegenteil könne es dem sozialen Zusammenhalt nur förderlich sein, wenn Minderjährige Ideen von Diversität, Gleichberechtigung und Toleranz ausgesetzt werden und sie diese Ansichten übernehmen (par. 82). Dabei verwies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf, dass das Ministerkomitee des Europarates im Jahr 2010 einstimmig (mit der Stimme Russlands) die Mitgliedsstaaten aufgerufen hatte, Kinder vor Homophobie zu schützen, und zwar ausdrücklich nicht nur durch unmittelbare Maßnahmen gegen Gewalt, Mobbing, Ausgrenzung und andere Formen von Diskriminierung und Erniedrigung, sondern auch durch die Bereitstellung vorurteilsloser Informationen über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität (par. 82).

Einstimmige Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Erst im Jänner dieses Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil zu Märchenbüchern für Kinder gefällt, die aufgrund der Darstellung (auch) gleichgeschlechtlicher Liebe, Partnerschaft und Ehe als jugendgefährdend eingestuft wurden. Dieses Urteil erging durch die höchste Instanz Europas in Menschenrechtsfragen, die Große Kammer des EGMR, deren 17 Mitglieder die Einstufung als Jugendgefährdung einstimmig als Menschenrechtsverletzung erkannten (Macaté v Lithuania GK 2023).

Dabei stellten sie klar, dass die Szene, in der die Prinzessin und die Tochter des Schuhmachers in der Hochzeitsnacht einander in den Armen liegen, keineswegs als sexuelle Darstellung verstanden werden kann (par. 190). Die Große Kammer wiederholte die Feststellung des Gerichtshofs im Fall Baev, dass ein gesetzliches Verbot von "Werbung für Homosexualität und andere nichttraditionelle sexuelle Beziehungen unter Minderjährigen" keinem legitimen Ziel des Schutzes von Moral, Gesundheit oder der Rechte und Freiheiten anderer dient und dass Staaten durch solche Gesetze Stigma und Vorurteile verstärken sowie Homophobie fördern, was mit den einer demokratischen Gesellschaft inhärenten Ideen von Gleichberechtigung, Pluralität und Toleranz unvereinbar ist (par. 202).

"Die bloße Tatsache, dass manche Menschen bestimmte Formen von Familien oder Beziehungen verwerflich oder unmoralisch finden, kann es nicht rechtfertigen, zu verhindern, dass Kinder über diese erfahren", heißt es in dem Urteil des EGMR (par. 213). Und weiter: "Der Gerichtshof stellt klar, dass gleicher und gegenseitiger Respekt für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen dem gesamten Gefüge der Europäischen Menschenrechtskonvention inhärent ist. Daraus folgt, dass Beleidigung, Erniedrigung oder Herabsetzung von Menschen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung sowie die Förderung einer Form der Familie zum Nachteil einer anderen niemals unter der Menschenrechtskonvention akzeptabel ist" (par. 214).

Beitrag zur weiteren Stigmatisierung

Der EGMR verlieh seiner "festen Überzeugung" Ausdruck, dass die Einschränkung des Zugangs von Kindern zu Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen ausschließlich aufgrund der sexuellen Orientierung zeigt, dass staatliche Behörden eine Präferenz für manche Formen von Beziehungen und Familien gegenüber anderen haben, dass sie verschiedengeschlechtliche Beziehungen als sozial akzeptabler und wertvoller sehen als gleichgeschlechtliche, womit sie zur weiteren Stigmatisierung Letzterer beitragen" (par. 215). "Solche Einschränkungen, wie beschränkt sie in ihrem Anwendungsbereich und in ihrer Wirkung auch immer sein mögen, sind unvereinbar mit den einer demokratischen Gesellschaft immanenten Ideen von Gleichberechtigung, Pluralismus und Toleranz", so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehr als eindeutig. (Helmut Graupner, 20.3.2023)