Charakterkopf mit großer Leidenschaft für die Schauspielerei: "Ich habe nicht einen Drehtag bei mehr als 150 Filmen verpasst."

Foto: APA/AFP/ANGELA WEISS

Willem Dafoe mit Regisseur Vasilis Katsoupis am Set von "Inside".

Foto: AP/Wolfgang Ennenbach/Focus Features

In "Inside" spielt Dafoe einen Kunstdieb, der in die Wohnung eingesperrt wird, aus der er stehlen wollte. Ein klaustrophobisches Kammerspiel beginnt.

Foto: Wolfgang Ennenbach / Focus Features

Willem Dafoe ist sofort ganz da, ein Energiebündel, ein freundlicher Charismatiker und lächelnder Ewigjunger. Der US-amerikanische Charakterdarsteller verströmt eine Leichtigkeit, die vielen seiner Figuren abgeht. Dafoe, 67, in Wisconsin aufgewachsen, schaut mit den Augen eines neugierigen Jungen auf die Welt. Und bewegt sich in ihr mit dem durchtrainierten Körper eines höchstens Mittvierzigers. Drahtig sitzt er im Sessel, ein bisschen wie ein Panther auf dem Sprung.

STANDARD: Mister Dafoe, Ihr neuer Film "Inside" ist eine One-Man-Show. Neben Ihnen gibt es kaum Darsteller, Sie haben eigentlich kaum Text. War das ein Grund, die Rolle anzunehmen?

Dafoe: Weil ich nicht groß Dialoge lernen musste? Sie haben einen wunden Punkt getroffen, das war auf jeden Fall ausschlaggebend. Ich musste mich für die Rolle kaum vorbereiten, es ging vor allem darum, in einer Extremsituation zu reagieren.

STANDARD: Ein Einbrecher versucht, in einem New Yorker Penthouse Kunstwerke zu stehlen, nach einem Computerfehler verriegeln sich die Türen und Fenster, und der Dieb muss in der menschenleeren Wohnung überlegen.

Dafoe: Ich konnte einfach meine Erfahrung mitbringen, und dann haben wir experimentiert. Es gab nur ein unvollständiges Skript, in dem die grundlegende Prämisse erklärt wurde. Da stand zum Beispiel drin: Die Heizung geht an, der Protagonist beginnt zu schwitzen. Nur wie erzählen wir das? Wir mussten mit dem uns zur Verfügung stehenden Raum und meinen Gesten arbeiten. Also haben wir die Digitalanzeige der Klimaanlage gezeigt, ich habe mir das Hemd ausgezogen und mir Wasserspritzer von der Schulter gewischt.

STANDARD: Für "Der Leuchtturm" haben Sie sich lebendig begraben lassen, bei "Die letzte Versuchung Christi" hingen Sie stundenlang am Kreuz. Dieses Mal bewegen, klettern, springen und rennen Sie in beinahe jeder Szene durchs Penthouse. Kommen Sie je an Ihre physischen Grenzen?

Dafoe: Nein, ich stamme aus einer körperbetonten Theatertradition. Seit ich auf der Bühne stehe, setze ich meinen Körper zu 100 Prozent ein.

STANDARD: Haben Sie sich jemals bei Ihren Dreharbeiten den Knöchel verstaucht oder den Arm ausgerenkt?

Dafoe: Eine kleine Schramme vielleicht, aber so eine richtige Verletzung? Nein, passt nicht zu mir. Ich habe nicht einen Drehtag bei mehr als 150 Filmen verpasst.

STANDARD: Aha, Sie haben Knochen aus Stahl?

Dafoe: Langsam werde ich ein bisschen älter, aber mein Körper funktioniert noch ziemlich gut. Seit 35 Jahren mache ich jeden Morgen Ashtanga-Yoga. Auch wenn mich das nicht muskulöser macht, werde ich dadurch flexibler, und es kräftigt mich innerlich.

STANDARD: Haben Sie einen dieser Fitness-Tracker, um Ihren täglichen Fortschritt zu messen?

Dafoe: Schauen Sie mich an, ich bin oldschool – nein.

STANDARD: Im Film dürfen Sie Ihren Körper auch anders zum Einsatz bringen: Sie tanzen.

Dafoe: Na ja, für ein paar Sekunden.

STANDARD: Zum Hit "Macarena". Haben Sie den Song ausgesucht?

Dafoe: Ganz bestimmt nicht. Das Lied hat der Regisseur ausgewählt. Nicht mein Lieblingshit aus den 90er-Jahren, aber hey, ganz schöner Ohrwurm. Und es gab ein paar hübsche Mädchen in dem Video.

STANDARD: Sind Sie ein leidenschaftlicher Tänzer?

Dafoe: Bin ich, weil Tanzen etwas sehr Konkretes ist. Man erlebt einen Augenblick mit seinem Körper, verbindet sich in einem bestimmten Moment mit der Musik. Es ist eine andere Art von Konzentration, die das Bewusstsein ausschaltet. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin niemand, der auf einen Tanzabend geht und mit seinen tollen Hüftschwüngen angibt. Fast lieber mag ich es, anderen Menschen beim Tanzen zuzusehen, zu beobachten, wie sie ritualisierte Bewegungen zur Musik ausleben. Ich habe eine Schwäche für das Tanzen in Gruppen, das Verlieren in einer Choreografie. Das Gleiche gilt übrigens auch fürs gemeinsame Singen. Diese Kraft, sich im Geschehen zu verlieren und mit anderen Menschen zu verbünden!

STANDARD: Es besteht also noch die Chance, Sie in einem Britney-Spears-Video zu sehen?

Dafoe: Hm, darüber müssen wir noch mal sprechen.

STANDARD: Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre haben Sie in New York gelebt. Damals gingen Schauspieler, Künstler oder Designer ins Studio 54, um zu feiern. Haben Sie sich manchmal auf dem Dancefloor des legendären Clubs in einen Rausch getanzt?

Dafoe: Ich war nie dort. Als ich ein junger Schauspieler war, hatte ich kaum Geld. Ich dachte, diese Leute im Studio 54 seien ein Haufen reicher Narren. Damals habe ich jeden Tag mit meiner Theatergruppe, der Wooster Group, gearbeitet. Wir fanden den Club überhaupt nicht cool, sahen uns als Downtowns härteste Gang, das Studio 54 war Uptown-Geld, Drogen, Dekadenz, all das, was wir verachteten. Wir wollten Kunst um der Kunst willen machen, die bloß Karriere.

STANDARD: Also haben Sie lieber mit den Punks im CBGB gefeiert.

Dafoe: Oder ich hing im Mudd Club ab, jedoch nicht regelmäßig. Sobald ich nach New York kam, habe ich mit dem Theater angefangen. In der Wooster Group produzierten wir nicht nur die Stücke, wir betrieben auch das Theater, bemalten die Wände, machten die Büroarbeit, kümmerten uns um Werbung. Und wir besaßen das Gebäude, was uns im Nachhinein gerettet hat. Anfangs kamen unsere Stücke gar nicht gut an, mit der Zeit machten wir uns einen Namen, vor allem dank europäischer Kulturfinanzierung. Unsere Produktionen bekamen damals keine Unterstützung von Sponsoren in Amerika, doch europäische Kulturinstitute wurden auf uns aufmerksam und beauftragten uns mit Inszenierungen. Erst als die Kritiker der "New York Times" uns auf coolen Festivals in Paris oder Berlin gesehen hatten, fingen sie an, uns zu loben. Davor waren die Kritiken so schlecht, dass unser Regisseur anordnete, die Presse aus den Vorführungen zu verbannen.

STANDARD: Was hatten die Zeitungen denn geschrieben?

Dafoe: "It was detritus." Also kompletter Müll, unterdurchschnittliches Zeug.

STANDARD: Zugegeben, Theater kann manchmal eine Herausforderung sein.

Dafoe: Natürlich waren die Gruppenstücke nicht per se besser als andere Aufführungen. Schlechtes Theater ist the worst, aber gutes Theater ist das Beste, was man erleben kann.

STANDARD: Hat mal jemand zu Ihnen gesagt: Ich wünschte, dieses Stück wäre länger gewesen?

Dafoe: Guter Witz. Interessanterweise hört man diesen Vorwurf inzwischen von Filmen. Sie sind nicht mehr 90 Minuten, sondern bis zu drei Stunden lang. Wissen Sie warum? Weil es so schwer geworden ist, Filme zu finanzieren. Hat ein Studio ein großes Budget ergattert, tun sie alles dafür, um die Summe zu rechtfertigen. Die Set-Bauten sind teuer, Millionen Dollar für den Nachbau von Gotham City. Der Regisseur dreht eine Einstellung in der Kulisse, sie funktioniert nicht richtig, aber er muss etwas mit diesem Set anfangen, schmeißt die Szene nicht weg, sondern verändert sie mit Actionsequenzen. Dadurch sieht man laufend diese teuren Kulissen im Film. Ob man sie für die Geschichte braucht oder nicht.

STANDARD: Ihre ersten Schritte im Showgeschäft taten Sie mit sechs Jahren, als Sie kleine Theaterstücke schrieben. Worum ging es da?

Dafoe: Das waren historische Stoffe. Die Stücke hatten Titel wie "Goldrausch in Alaska".

STANDARD: Die haben Sie Ihren Eltern im Wohnzimmer vorgespielt?

Dafoe: In der Schule natürlich. Mein größtes Problem damals – und das sagt wahrscheinlich viel über mich bis heute aus – war, dass ich es kaum erwarten konnte, zu den Actionszenen zu kommen. Ich war nicht in der Lage, mich auf die Dialoge zu konzentrieren, weil ich im Kopf schon bei den Schwertkämpfen war.

STANDARD: Sie kommen aus einem Ärztehaushalt wie Ihr britischer Kollege Hugh Laurie. Er beschwerte sich, dass er nie zu Hause bleiben durfte, wenn er krank war. Sein Vater sagte immer: Das geht vorüber. Mussten Sie auch immer in die Schule?

Dafoe: Ich war ziemlich gut darin, auf Kommando zu erbrechen. Wenn ich nicht zur Schule wollte, setzte ich diese Geheimwaffe ein, und meine Eltern taten alles, um zu verhindern, dass ich auf Mitschüler oder Lehrer kotzte.

STANDARD: Sie haben sich heimlich den Finger in den Hals gesteckt?

Dafoe: Nein, ohne Finger. Ich kann das bis heute. Warten Sie! (Dafoe beginnt zu röcheln, es klingt wirklich furchteinflößend.)

STANDARD: Sehr glaubwürdig, bitte aufhören. Mittlerweile leben Sie mit Ihrer Frau, der Regisseurin Giada Colagrande, in Rom. Wie erleben Sie die Stadt?

Dafoe: Ich wohne zwischen Piazza Vittorio und dem Oppio-Hügel. Natürlich bin ich noch Einwanderer, ich spreche kein perfektes Italienisch, doch ich habe viele Freunde – wie den Regisseur Abel Ferrara, der dort mit seiner italienischen Frau lebt. Ich liebe es, in Städten zu wohnen, in denen ich zu Fuß unterwegs sein kann. New York ist dafür gut gemacht – und Rom auch.

STANDARD: Was ist Ihr Lieblingsspaziergang?

Dafoe: Als ich 2003 mit Wes Anderson den Film "Die Tiefseetaucher" drehte, wohnte ich in einer hübschen Wohnung im historischen Zentrum, gleich am Teatro Argentino. Damals bin ich oft spazieren gegangen, ohne GPS, ohne Karte, einfach drauflos. Irgendwie führte mich mein Weg immer zur Piazza Vittorio. Eines Tages erzählte mir ein Freund von einem Film, der gerade auf dem Festival in Venedig gezeigt und von einer jungen Frau an der Piazza gedreht wurde. Ich sah mir den Film an, überlegte, mich mit der Regisseurin zu treffen – und sie wurde meine Frau.

STANDARD: Ihr Kollege Stanley Tucci hat auf seinem Instagram-Kanal gerade den Markt auf dem Campo de' Fiori gelobt. Was bedeutet für Sie Lebensqualität in Rom?

Dafoe: Man isst besser als in den Staaten, das Leben ist entspannter ...

STANDARD: Moment, es gibt kaum eine andere europäische Großstadt, die hektischer ist.

Dafoe: Normalerweise bin ich ein disziplinierter Mensch, ich neige dazu, Dinge schnell erledigen zu wollen. Das geht in Rom gar nicht, es herrscht ein natürliches Chaos. Ich möchte nicht verallgemeinern, doch tief drin in den Italienern scheint eine Unruhe zu schlummern, nie ein Ende finden zu können. Sie hören nie auf, an Sachen oder Ideen herumzuwerkeln. Wir Amerikaner sind das anders gewöhnt: Um drei Uhr ist der Job erledigt – und dann ist er auch fertig. Nicht in Rom. Die Italiener grübeln darüber nach, suchen nach der perfekten Lösung, und Zeit spielt keine Rolle. Mein Tipp: Akzeptieren Sie das Chaos, dann haben Sie ein ziemlich entspanntes Leben dort. (Ulf Lippitz, 20.3.2023)