Er war der bekannteste lebende Physiker seiner Zeit und zugleich einer der umstrittensten. Neben seinen in der Fachwelt hochgeachteten wissenschaftlichen Arbeiten scheute er auch die große Bühne nicht, wo er zum Teil mit spektakulären Ideen für Aufsehen sorgte. So äußerte er sich etwa einmal überzeugt, dass die Menschheit das All besiedeln müsse, um überleben zu können. Bei einem Vortrag auf Einladung der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er war, verkündete er, ein in sich abgeschlossenes Universum bedürfe keiner Schöpfung und würde Gott obsolet machen. In persönlichen Gesprächen konnte er schon einmal aus einer Laune heraus den Tod der Philosophie als Ganzes behaupten. Es sollte nicht verwundern, dass er manche dieser Aussagen später widerrief.

Stephen Hawking bei einem Vortrag im Jahr 2008. Durch einen Luftröhrenschnitt stumm geworden, unterhielt er sich ab 1985 mithilfe eines Sprachcomputers, den er mithilfe seiner Hand, später mit einem Wangenmuskel bediente.
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Ein Physikbuch als Bestseller

Spekulationen und philosophische Überlegungen waren auch Teil seines bekanntesten Buches, "Eine kurze Geschichte der Zeit", in dem er sich der Physik hinter der Entstehung des Universums widmet. Das Buch verkaufte sich mehr als 25 Millionen Mal und bringt seit mittlerweile 35 Jahren auch Menschen ohne physikalische Vorkenntnisse Kosmologie näher. Es machte Hawking zum Star, dessen außergewöhnliches Leben sehr gelungen in Form des Biopics "Die Entdeckung der Unendlichkeit" verfilmt wurde, Oscar für Hauptdarsteller Eddie Redmayne inklusive.

Kurz vor seinem Tod soll Hawking seinem ehemaligen Doktoranden Thomas Hertog offenbart haben, dass es Zeit für ein neues Buch sei. Gemeinsam machten sich die beiden an die Arbeit, wobei sich Hawkings Gesundheitszustand nach und nach verschlechterte. Zum Ende hin, als Kommunikation durch Hawkings Lähmung beinahe unmöglich wurde, will Hertog Hawking seine Wünsche buchstäblich von den Augen abgelesen haben.

Dieses Buch ist nun erschienen, und Hawking nimmt darin Bezug auf sein populärstes Werk. "Ich habe meine Ansicht geändert", wird er darin mit einer Aussage aus dem Jahr 2002 zitiert. "'[Eine] kurze Geschichte [der Zeit]' ist aus der falschen Perspektive geschrieben."

Stephen Hawking gemeinsam mit seiner damaligen Frau Elaine Mason im Jahr 2005 bei der Vorstellung seines Buchs "Die kürzeste Geschichte der Zeit".
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Wer steht im Zentrum?

Die Idee dreht sich um die Frage, wie sehr der Mensch im Zentrum des Universums steht. In ihrer astronomischen Form führte sie einst bei Kopernikus und Galilei zu einer Krise zwischen katholischer Kirche und Wissenschaft, beschäftigt aber in modernem Gewand auch aktuell die Forschung.

Konkret geht es um die Beobachtung, dass die Naturkonstanten der physikalischen Gesetze eine ganz besondere Konstellation haben, dank der intelligentes Leben wie jenes auf der Erde möglich ist. Jede kleinste Abweichung hätte eine Welt zur Folge, in der es etwa kaum Kohlenstoff- oder Sauerstoffatome gäbe und Leben undenkbar wäre.

Zu dem Problem gibt es eine einfache Lösung: Wäre die Welt anders, wäre auch niemand da, um sie zu beobachten. Doch diese als "anthropisches Prinzip" bekannte Erklärung ist für viele Forschende unbefriedigend, weil sie die Frage der wissenschaftlichen Behandlung entzieht. Besser wäre es, physikalische Gründe zu finden, warum die Welt nur so und nicht nicht anders existieren kann.

Der Begriff des anthropischen Prinzips ist nicht scharf umrissen, er tritt in einer starken und einer schwachen Form auf, die beide unterschiedlicher Kritik ausgesetzt sind. Das schwache anthropische Prinzip besagt im Grunde etwas Selbstverständliches: dass wir die Welt nur beobachten können, wenn wir existieren. Solche trivialen Aussagen werden "tautologisch" genannt und erklären nichts. Die starke Form des anthropischen Prinzips wiederum macht Annahmen über eine hinter der Lebensfreundlichkeit des Universums verborgene Absicht. Hier, so die Kritik, wird der Mensch wieder ins Zentrum des Universums gestellt.

Der Mensch als Teil des Systems

In "Eine kurze Geschichte der Zeit" zeigte sich Hawking offen gegenüber dem anthropischen Prinzip. Genau das widerruft er nun und sieht sich gemeinsam mit Hertog nach alternativen Blickwinkeln um, aus denen das Universum betrachtet werden könnte. Konkret hält er es nicht mehr für sinnvoll, eine übergeordnete "gottähnliche" Perspektive einzunehmen. Der Mensch müsse der Tatsache Rechnung tragen, dass er Teil des Systems ist, das er beschreiben will. Die Frage nach Welten ohne Menschen habe keinen Sinn. "Wir brauchen eine neue Philosophie der Physik für die Kosmologie", stellt Hawking fest.

Hertog beschreibt den Entwurf einer Kosmologie, "die die Idee ablehnt, dass das Universum eine von zuvor schon existierenden und bedingungslos geltenden Gesetzen regierte Maschine sei". Diesen Ansatz, den er Bottom-up-Ansatz nennt, will er durch einen Top-down-Ansatz ersetzen, der das Universum als "selbstorganisierende Entität" betrachtet. Hawing sagt dazu: "Eine gottähnliche Perspektive ist in der Kosmologie offensichtlich eine Täuschung. Wir befinden uns innerhalb des Universums, nicht irgendwo außerhalb."

Schwierige Zusammenarbeit

Neben den Überlegungen zur Stellung des Menschen im Universum beeindrucken Hertogs Schilderungen der Zusammenarbeit mit dem an Amyotropher Lateralsklerose erkrankten und seit 1968 auf den Rollstuhl angewiesenen Physiker, der aufgrund zunehmender Lähmungserscheinungen (und einem Luftröhrenschnitt) auf einen Sprachcomputer zurückgreifen musste. Der amerikanische Akzent der Sprechstimme dieses frühen Prototyps wurde zum Markenzeichen des britischen Physikers. Trotz verbesserter technischer Möglichkeiten blieb er ein Leben lang dabei.

Der Physiker Tomas Hertog war einst Stephen Hawkings Doktorand, bevor er in dessen späten Lebensjahren eng mit ihm zusammenarbeitete.
Foto: Journal of High Energy Physics

Hertog beschreibt, wie jede Artikulation Hawkings Minuten dauerte und es zum Teil nötig war, seine Mimik zu interpretieren. Doch er erzählt auch von Hawkings Charisma und seinem unerschütterlichen Humor, wenn er etwa mitteilte, sterben zu müssen – sofern ihm nicht jemand schnell eine Tasse Tee brachte.

Keine Fachpublikation

Festhalten lässt sich, dass es sich bei dem neuen Buch nicht um eine Publikation in einem Fachjournal handelt, in der ein wissenschaftliches Ergebnis in der Regel kommuniziert wird. Erst der damit verbundene Peer-Review-Prozess – die Überprüfung durch Fachkolleginnen und -kollegen – verleiht wissenschaftlichen Arbeiten ihr Gewicht, auch wenn dadurch ihre Wahrheit natürlich nicht erwiesen ist.

Hawking teilte immer wieder neue Ideen mit weitreichenden Implikationen in seinen populären Veröffentlichungen. Das hat in der Wissenschaft durchaus Tradition, Erwin Schrödingers populäre Vorträge zur Natur des Lebens bahnten etwa später in Form seines Buchs "Was ist Leben" den Weg zur Entdeckung der DNA.

An den spekulativen Teilen von Hawkings Arbeit gab es in der Vergangenheit Kritik. Der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan empfahl, Hawking eher als "kosmischen Performancekünstler" denn als Wissenschafter zu betrachten. Viele provokante Aussagen seien einfach seinem Humor geschuldet.

Die Philosophie hinter den wissenschaftlichen Publikationen

Hertog versteht das Buch jedenfalls als Ergänzung zu den gemeinsamen Publikationen der beiden, die letzte davon 2017 im "Journal of High Energy Physics", in der sie Konzepte aus der Stringtheorie auf die frühe Phase der Entstehung des Universums anwenden. Rund ein Dutzend wissenschaftliche Artikel sind es in Summe. "Diese Fragen standen in unseren wissenschaftlichen Veröffentlichungen immer im Hintergrund. In diesem Buch habe ich diese Fragen in den Mittelpunkt gestellt und unsere Geschichte aus dieser Perspektive erzählt", sagt Hertog gegenüber dem britischen "Guardian".

"On the Origin of Time: Stephen Hawking's Final Theory" erscheint am 6. April in englischer Sprache. Die deutsche Version "Der Ursprung der Zeit – Mein Weg mit Stephen Hawking zu einer neuen Theorie des Universums" erschien am 15. März beim Verlag S. Fischer. (Reinhard Kleindl, 22.3.2023)