Ramsan Kadyrow erntete für seinen jüngsten Auftritt Häme.

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Die vergangenen zwei Monate haben an Adam M.s Nerven gezehrt. Seit knapp 20 Jahren lebt der Tschetschene in Österreich, die Heimat verfolgt ihn aber noch immer. Anfang Jänner wurde sein Cousin gemeinsam mit rund 20 anderen Männern von Sicherheitskräften entführt – seither wurde er nicht mehr gesehen.

Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass er einer von mindestens drei Männern ist, die in einem der berüchtigten illegalen Gefängnisse von Diktator Ramsan Kadyrow festgehalten werden. Laut M. wollen tschetschenische Behörden seinen Cousin auch durch Folter dazu bringen, fälschlicherweise andere "Verdächtige" zu belasten. Tue er das nicht, drohen ihm 15 Jahre Haft. Außerdem werde ein Lösegeld von 120.000 Euro gefordert. M.s Verwandte haben ihn angefleht, sie nicht zu kontaktieren, da ihre Telefone abgehört werden und Kontakte ins Ausland gefährlich sind.

Kadyrows Söhne an der Front

Fälle wie dieser zeigen, dass sich die ohnehin angespannte Situation in Tschetschenien, einer autonomen Republik der Russischen Föderation, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine noch verschärft hat. Kadyrow ist einer der stärksten und prominentesten Unterstützer von Kreml-Chef Wladimir Putin. Er hat selbst zehntausende Soldaten in die Ukraine geschickt, begleitet von einer massiven Kampagne in sozialen Medien. Kadyrow schickte nicht nur enge Verbündete, sondern angeblich auch seine drei Söhne im Teenageralter als Kommandanten an die Front – die er auch selbst besucht haben will.

Um die tschetschenischen Verluste wird jedoch ein großes Geheimnis gemacht. Angeblich soll es Hinterbliebenen verboten worden sein, über ihre gefallenen Verwandten zu sprechen. Gleichzeitig hat der Krieg auch der Unabhängigkeitsbewegung neuen Antrieb verliehen: Hunderte Unterstützer der separatistischen Tschetschenischen Republik Itschkerien kämpfen in der Ukraine, und Kadyrows Gegner in der Diaspora haben neue Energie im Kampf gegen Russland erhalten.

Große Demonstrationen

Ein Hoffnungszeichen ist für sie, dass nach Putins Generalmobilmachung im September 2022 erstmals breitflächige Demos in Tschetschenien stattfanden. Vor allem Frauen wehrten sich dagegen, dass ihre Söhne und Männer an die Front geschickt werden. Schon zuvor hatte es Gerüchte gegeben, dass die heimliche Widerstandsbewegung in Tschetschenien wachsen solle.

Im Herbst erkannte das ukrainische Parlament die Republik Itschkerien dann als unabhängig und die russischen Tschetschenienkriege als genozidal an – ein Novum.

Taktikänderung notwendig

"Kadyrows Regime war gezwungen, rasch seine Taktik zu ändern", sagt Nordkaukasus-Experte Harold Chambers dem STANDARD. Statt öffentlicher Mobilmachung habe man plötzlich heimlich Männer entführt. Die Proteste gegen eine Teilnahme am Ukrainekrieg hätten Kadyrow laut Chambers gezeigt, "wie instabil die Republik" sei. Es handle sich um oberflächliche Stabilität, die durch starke Repression entstünde.

Eine oftmals angewandte Taktik ist da die Festnahme von vielen Familienmitgliedern gleichzeitig. Dadurch würde es für die Sicherheitskräfte einfacher, falsche Geständnisse zu erpressen, erklärt Ekaterina Vanslowa von der NGO Committee Against Torture.

So etwas passierte auch S., einem anderen Tschetschenen, der in Österreich lebt und sich in der Exilopposition Edinaya Sila (United Force) engagiert, die europaweit rund tausend Mitglieder haben soll. S. arbeitet als Kommunikationschef für United Force, mehrfach kritisierte er das Regime in Videos. Nun sollen seine Eltern und andere Verwandten sowohl von den tschetschenischen Behörden als auch vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB Besuch erhalten haben.

Anruf vom Minister

Eine klare Drohung: S. selbst sei vom tschetschenischen Informationsminister angerufen worden, der ihn als Feind von Kadyrow bezeichnet habe. Männliche Verwandte sollen mit einem Fronteinsatz bedroht worden sein, wenn er nicht aufhöre, erzählt S. dem STANDARD.

Erhöht wird die Nervosität durch mediale Spekulationen über Kadyrows Gesundheitszustand. Dessen Macho-Image leidet zunehmend unter merkwürdigem Verhalten, etwa undeutlicher Aussprache, klar sichtbaren körperlichen Veränderungen und ungewöhnlichen Posen. Anfang März hieß es sogar, Kadyrow sei vergiftet worden oder schwer erkrankt und zur Behandlung in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Passend dazu wirkt es, als ob der erst 47-jährige Kadyrow seine Nachfolge klärt: Zuletzt war sein Sohn Akhmat bei Putin zu Gast, wo ihm der russische Präsident zur baldigen Hochzeit gratulierte. Laut dem Kaukasus-Experten Chambers sei das Treffen "eines von vielen Ereignissen, die zeigen, dass Ramsan Kadyrow seinen Sohn Akhmat auf seine Nachfolge vorbereitet". Mit 17 Jahren ist dieser allerdings noch viel zu jung, um sofort zu übernehmen.

Häme für Auftritt mit Putin

Die Spekulationen beenden sollte wohl ein Treffen von Putin und Kadyrow Anfang dieser Woche. Es sorgte jedoch für Häme in sozialen Medien, zitterte ein sichtlich aufgeschwemmter Kadyrow doch, während er von einem Blatt mit ungewöhnlich großer Schriftart ablas. Unterdessen klammerte sich Putin an seinem Arbeitstisch fest.

Dass die beiden einander brauchen, zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten. Mit dem sehr brutalen zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) profilierte sich Putin einst als Ministerpräsident, bevor er Präsident wurde. Danach installierte er Akhmad Kadyrow, Ramsans Vater, als Statthalter in Tschetschenien. Seither steht der Kadyrow-Clan loyal an der Seite des Kreml. (Kate Manchester, 21.3.2023)