Sei es politisch oder wirtschaftlich: Wer sich auf den Status quo verlässt, riskiert, viel zu verlieren. Die einzige Konstante ist mittlerweile die Unsicherheit. Dafür gibt es im Englischen sogar einen Fachausdruck: "Stabilized volatility" nennt sich dieses Phänomen. Jährlich analysiert die Wirtschaftsprüfungskanzlei EY in ihrem geostrategischen Ausblick, was die größten Hürden und Risiken für Unternehmen weltweit darstellt. Aktuell macht Unternehmen diese stabile Unsicherheit zu schaffen, da sie auch ein Umdenken im eigenen Handeln erfordert.

Den größten Brocken – besonders für den Wirtschaftsstandort Europa – stellt EY zufolge wenig überraschend der Krieg in der Ukraine dar, er hat die Energiepreise und daraus resultierend die Inflation massiv in die Höhe getrieben. Dahinter kommen die fortlaufende Entkoppelung Chinas vom Westen und die sich ändernde Rolle der sogenannten geopolitischen Swing-States, also Staaten, die sich zwischen klassischen Machtblöcken bewegen.

Heuer werden die einflussreichsten dieser Swing-States Indien, Brasilien, Saudi-Arabien und die Türkei sein. Das eine lässt sich nicht mit dem anderen vergleichen, doch auf komplexe Weise und natürlich in Kombination mit vielen weiteren Faktoren greifen die Themen ineinander.

EY beleuchtet jährlich die größten Unsicherheitsfaktoren für Unternehmen. Heuer sind es der Krieg in der Ukraine, Chinas Abnabelung vom Westen und die Rolle von Staaten wie Indien. Außerdem wird es immer schwerer, sich bei multilateralen Verträgen zu einigen.
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Schwierige Suche

Wie schnell ein Standort zum Problem werden kann, haben Corona und die Lieferkettenthematik bzw. der Krieg eindrucksvoll gezeigt. "Die Suche nach Absatzmärkten ist deutlich schwieriger geworden", sagt Gunther Reimoser, Country Managing Partner bei EY. "Märkte wie Indien kann man als global agierendes Unternehmen nicht ausschließen." Mittlerweile brauche es aber nicht nur einen Plan B, wenn sich etwas ändert, sondern auch schon einen Plan C und D.

Klar ist, Swing-States können insbesondere bei Lieferketten und Investitionsmöglichkeiten attraktive Optionen bieten – dem gegenüber stehen je nach Orientierung der Länder das Reputations- und das Compliance-Risiko.

"Das Beispiel Russland hat uns gelehrt, dass vollständige Abhängigkeiten der Vergangenheit angehören müssen. Unternehmen brauchen nicht nur einen Plan, wie sie Ausfälle in Lieferketten kompensieren können, sondern auch, wie man ganze Unternehmenssegmente abstößt. Sie benötigen sozusagen eine Sollbruchstelle wie eine Eidechse am Schwanz", sagt Reimoser. In der Vergangenheit wären Swing-States größtenteils einer westlichen Orientierung gefolgt, das sei nun größtenteils vorbei. "Indien etwa ist riesig, geht seinen eigenen Weg und verfolgt hauptsächlich eigene Interessen. Zum Ukrainekrieg steht das Land neutral. Europäer nennen das opportunistisch, in Indien nennt man es strategisch", meint Reimoser.

Komplizierte Beziehung

Das Verhältnis des Westens zu China hat sich in den vergangenen Jahren stetig verkompliziert. EY geht davon aus, dass sich die chinesische Wirtschaft auch im Jahr 2023 weiter entkoppeln wird – sei es durch restriktive Politik seitens der EU und den Vereinigten Staaten, die sich implizit oder explizit gegen China richtet, oder durch die weitere Abnabelung Chinas von westlichen Wertschöpfungsketten. Zahlreiche Unternehmen haben im Zug der Pandemie angekündigt, Produktionsstätten wieder nach Europa zu verlegen. Reimoser geht allerdings davon aus, dass das ein über Jahrzehnte gehender Prozess wird.

Erschwerend zu den diversen Konfliktherden kommen die stärker werdenden nationalistischen Tendenzen – wirtschaftlich wie politisch. Begonnen hat es mit den Lieferkettenproblemen, als Länder zuerst ihre eigene Versorgung sichern wollten. Der russische Angriff hat die Gräben dann noch einmal tiefer werden lassen. In puncto Energiesicherheit, aber auch im Kampf gegen die Klimakrise braucht es multilaterale Abkommen, bei denen es immer schwerer geworden ist, einen Konsens zu finden.

Unsicherheitsfaktor Krieg

Wie es beim Krieg in der Ukraine weitergeht, ist nach wie vor unklar. Ein jähes Ende ist nicht in Sicht, und je länger sich der Konflikt weiter hinzieht, umso mehr ist Putin unter Druck, weitere Eskalationsmaßnahmen zu ergreifen – was mindestens eine Ausweitung der Sanktionen gegen Russland bedeuten würde. Weitere Sanktionen können sich direkt und indirekt auf Unternehmen sowie deren Lieferketten auswirken. Was abermals steigende Preise zur Folge haben könnte.

All diese Umstände drücken in Führungsetagen bei Unternehmen auf der ganzen auf die Stimmung. Bei einer EY-Umfrage unter 1200 Großunternehmen gehen 98 Prozent von einem Abschwung der Weltwirtschaft aus, jeder zweite Befragte erwartet eine stärkere und längere Rezession als während der Finanzkrise vor 15 Jahren. Die größte Herausforderung sehen die meisten in den Unsicherheiten der globalen Geldpolitik und einer Erhöhung der Kapitalkosten durch steigende Zinsen. Corona habe dafür stark an Bedeutung verloren. (Andreas Danzer, 21.3.2023)