Paris – Die Freude im französischen Regierungslager über das – knapp, aber doch – überstandene Misstrauensvotum wegen der ohne Abstimmung im Parlament durchgepeitschten Pensionsreform war am Montagabend kurz und verhalten: Man wusste nur zu gut, dass die kommende Nacht Protestkundgebungen und Randale gegen Präsident Emmanuel Macron bringen würde.

VIDEO: In Frankreich sind bei landesweiten Protesten gegen die umstrittene Pensionsreform allein in Paris mehr als 200 Menschen festgenommen worden.
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Und so kam es dann auch im protestfreudigen und protesterprobten Frankreich. Die Polizei nahm nach eigenen Angaben rund 287 Personen fest, 234 davon allein in Paris, die teils gewalttätig gegen die Anhebung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre protestiert hatten.

Doch auch in Straßburg, Dijon, Lyon, Lille und anderen Städten gingen Menschen auf die Straße. Vielerorts wurden Mistkübel umgeworfen, manchmal auch Autos angezündet, Barrikaden errichtet oder Steine geworfen.

Neuer Tag, neue Streiks

Doch mit den nächtlichen Kundgebungen und Unruhen war es natürlich noch nicht getan. Auch für Dienstag sind zahlreiche Kundgebungen, Blockaden und Streikmaßnahmen geplant. Diese sind aber – noch – nicht vollständig durchgeplant und koordiniert. Daher erwarten die französischen Staatsbahnen nach Angaben der Zeitung "Figaro", dass die große Mehrheit der regionalen (TER) und überregionalen (TGV) Schnellzüge dennoch fahren wird – es werde aber zu einem Zugausfall im Ausmaß von 25 bis 30 Prozent kommen. Ähnliche Probleme erwartet man bei den Intercity-Verbindungen. Totalausfälle könnte es hingegen in den Nachtstunden geben, vermutet die Bahngesellschaft SNCF.

Bewegte Szenerie in Paris.
Foto: IMAGO/Le Pictorium

Im Großraum Paris versuche man den Bahnbetrieb vollständig aufrechtzuerhalten, was aber nicht gelingen werde. Die RATP, der staatliche Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs in Paris und dem nahen Umland, erwartet hingegen keine Störungen in ihrem Netz, das mit U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen betrieben wird.

Die französische Generaldirektion für Zivilluftfahrt (DGAC) forderte die Fluggesellschaften auf, am Dienstag und Mittwoch ein Fünftel ihrer geplanten Flüge von und zu den Flughäfen Paris-Orly und Marseille-Provence zu streichen.

Gewerkschaften machen weiter mobil

Nach den spontanen Demonstrationen vom Montagabend – die erwartet, aber meist nicht vorgeplant worden waren – äußerte sich der Generalsekretär der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, besorgt über die "Wut" und "Gewalt" bei der arbeitenden Bevölkerung. Der Chef des mit etwa 800.000 Mitgliedern größten Gewerkschaftsbundes Frankreichs rief zur kontrollierten Mobilisierung für den kommenden Donnerstag auf: Dieser solle ein Tag der Streiks und Demonstrationen sein. Dabei rief er zu "Ruhe und Verantwortungsbewusstsein" auf.

Übersetzung: "Die Streiks sind eine Form der Mobilisierung. Sie können fortgesetzt werden, wenn sie ruhig und verantwortungsbewusst ablaufen. Es geht darum zu beruhigen. Aber wenn die Regierung mit dem (Verfassungsartikel) 49.3 und dessen Folgen vorgeht, ist sie nicht auf Beschwichtigung aus."

Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon rief seinerseits zu einer "Volkszensur" auf, die sich massiv, an jedem Ort und unter allen Umständen "ausdrücken" müsse. "Nichts wird die Entschlossenheit der Arbeiter beeinträchtigen", warnte der dem kommunistischen Gedankengut nahestehende Gewerkschaftsbund CGT.

Im Hintergrund

Staatspräsident Macron hielt sich in den letzten Tagen eher im Hintergrund und schickte Ministerpräsidentin Élisabeth Borne an die Front: Sie hatte vergangene Woche die undankbare Aufgabe, der Nationalversammlung zu verkünden, dass Macron beschlossen habe, den Verfassungsartikel 49.3 zu aktivieren: Dieser erlaubt es, mittels präsidialer Vollmacht ein Gesetz zu erlassen, auch wenn es darüber keine parlamentarische Abstimmung gegeben hat. Im Gegenzug muss die Regierung allerdings bereit sein, sich einer Misstrauensabstimmung zu stellen – wozu es ja am Montagabend kam: Der parteiübergreifende Antrag wurde in der Nationalversammlung mit nur neun Stimmen Überhang abgelehnt.

VIDEO: Frankreichs Regierung übersteht knapp Misstrauensvotum im Pensionsstreit
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Der Vorgang an sich ist in Frankreich keineswegs unüblich: In den Jahrzehnten seit Charles de Gaulle wurde er rund 100-mal angewendet, um politische Blockaden zu brechen.

Doch auch wenn das Misstrauensvotum erfolgreich gewesen wäre: Über die Klinge wäre wohl nur Regierungschefin Borne gesprungen, nicht aber Staatspräsident Macron. Ihm hätte die Initiative ohnehin nicht wirklich etwas anhaben können – außer dem Umstand, sich mit einer immer massiver werdenden Protestbewegung konfrontiert zu sehen. Gemäß einer am Montag veröffentlichten Umfrage hatten etwa zwei Drittel der Französinnen und Franzosen durch das Misstrauensvotum auf einen Sturz der Regierung gehofft.

Am Donnerstag wird Macron um 13 Uhr Borne im Élysée-Palast empfangen – danach wird mehr Klarheit erwartet, wie es seitens der Regierung weitergehen soll. Am Mittwoch will der Staatschef – ebenfalls um 13 Uhr – vor die Kameras großer TV-Sender treten und sich erklären.

Pensionsantrittsalter wird erhöht

Die von Macron vorangetriebene, aber in der Bevölkerung verhasste Reform sieht unter anderem vor, das Pensionsantrittsalter bis 2030 schrittweise von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen. Zudem sollen die Mindestpensionen bei voller Beitragszeit auf 1.200 Euro angehoben und die Beschäftigung von Senioren gefördert werden. Das Vorhaben sorgt seit Wochen landesweit für Proteste, bei denen sich auch viel Unmut über die Inflation, Politikverdrossenheit und eine wachsende Ablehnung des Präsidenten ausdrücken.

Erwartet wird, dass Linke und Rechtsnationale im Streit über die Reform am Dienstag den Verfassungsrat anrufen werden. Sie wollen dort das Vorgehen der Regierung überprüfen lassen, die durch ein beschleunigtes Verfahren die Debattenzeit für die Reform im Parlament verkürzte und die Reform in einem Haushaltstext unterbrachte. Außerdem wollen die Linken versuchen, die Reform mit einem Referendum zu verhindern. Schon für Donnerstag sind zudem weitere Streiks und Proteste geplant. (gian, APA, 21.3.2023)