Für den Wiederaufbau werden dringend Fachkräfte gesucht. Viele von ihnen sind aber längst in Europa.

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Während in der Ukraine der Angriffskrieg Russlands wütet, rüsten sich die Unternehmer des Landes vorsichtig für die Zukunft. So auch Witalij Kropatschow. Der ukrainische Industrielle besitzt eine Reihe bedeutender Unternehmen in der Energiewirtschaft des Landes, nun möchte er ein Netzwerk an Ladestationen für Elektrofahrzeuge ausrollen.

Eine "zukunftsträchtige Branche" sei das, sagt Kropatschow. Schließlich möchte die Ukraine in die EU – und diese wiederum weg von fossilen Brennstoffen. Allerdings hat der Unternehmer ein Problem: Er findet keine Arbeitskräfte. Auf Dauer könne das den Wiederaufbau der Ukraine gefährden.

Starker Rückgang

Nicht nur, dass die Ukraine eine lange Historie der Emigration aufweist; auch eine niedrige Geburtenrate in Kombination mit einer im europäischen Vergleich geringen Lebenserwartung lässt die Bevölkerung altern – und schrumpfen. Seit 1996 ging die Bevölkerung um rund ein Fünftel zurück. All das spielte sich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 ab. Seitdem hat sich die demografische Situation immens zugespitzt. Tausende sind aufgrund des Krieges gestorben, viele weitere wurden zum Militär eingezogen. Dazu kommt eine massive Fluchtbewegung.

Laut dem UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, dürften mit Stand Mitte März rund acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Europa geflüchtet sein. Etwas mehr als fünf Millionen Menschen sind zudem aus östlichen Regionen des Landes in den Westen gezogen. Und die Fluchtbewegung ist weiter im Gange: Allein seit Anfang 2023 haben 500.000 Ukrainer das Land verlassen und sind vorerst nicht mehr zurückgekehrt. Der größte Teil der Flüchtlinge, rund 1,5 Millionen Menschen, suchten Unterschlupf in Polen. In Österreich wurden bislang knapp 100.000 Flüchtlinge registriert.

Willkommene Arbeitskräfte

Hierzulande haben Flüchtlinge seit 12. März 2022 ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht, das zuletzt bis 4. März 2024 verlängert wurde. Dieser "Ausweis für Vertriebene", der auf einer EU-Richtlinie basiert, stellt auch den Zugang zum Arbeitsmarkt sicher. Für die tatsächliche Berufsausübung ist eine zusätzliche Bewilligung nötig, die das AMS erteilt. Künftig wird diese Hürde völlig fallen: Laut einem Gesetzesentwurf der Regierung sollen ukrainische Flüchtlinge aus dem Ausländerbeschäftigungsgesetz ausgenommen und automatisch zum Arbeitsmarkt zugelassen werden, so wie das derzeit auch in Deutschland der Fall ist.

Mit Stand Ende Februar 2023 waren laut AMS 8.716 aus der Ukraine geflüchtete Menschen als Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer beschäftigt. Drei Viertel der Menschen sind Frauen. Sie sind vorwiegend im Tourismus, der Reinigung, in Hilfsberufen und in land- und forstwirtschaftlichen Berufen tätig. Vor allem zu Beginn der Krise war die steigende Zahl an Flüchtlingen eine Herausforderung für die EU-Staaten. Doch mittlerweile sind Ukrainer angesichts des hiesigen Arbeitskräftemangels eine willkommene Unterstützung am Arbeitsmarkt.

Bonus für die Rückkehr

Die Menschen wieder zurück ins Land zu bringen dürfte eine der großen Herausforderungen der Ukraine werden. Mittlerweile ist der Mangel an Arbeitskräften so groß, dass Frauen männerdominierte Berufe übernehmen, sagt der Industrielle Kropatschow. Eine kürzlich ergangene Gesetzesänderung erlaubt Frauen etwa, in Minen zu arbeiten. "Die Zerstörung der Infrastruktur ist zwar ein Problem – das größte ist aber der Mangel an Arbeitskräften."

Kropatschow will Flüchtlinge mit finanziellen Anreizen zurückholen.
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Viele gut ausgebildete Menschen hätten sich mittlerweile in anderen Ländern etabliert, sagt Kropatschow. Dazu kommt das höhere Lohnniveau in der EU. Unternehmen versuchen daher, Arbeitskräfte zurück in die Ukraine zu locken – vor alle mit monetären Anreizen. Für sein Projekt der E-Tankstellen bietet Kropatschow Rückkehrern Startkapital und eine Dienstwohnung.

Ob das reichen wird, um die Menschen ins Kriegsgebiet zurückzubringen, ist fraglich. Studienergebnisse sind bislang uneinheitlich – zwischen 23 und 90 Prozent der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer rechnen demnach mit einem längeren Aufenthalt. Insgesamt spricht vieles dafür, dass die ukrainischen Flüchtlinge dort bleiben, wo sie sich eingelebt haben.

Kriegsdauer beeinflusst Remigration

"In den meisten Fluchtkontexten wünschen sich Geflüchtete zuerst die Rückkehr, aber mit zunehmender Dauer der Flucht nimmt die Wahrscheinlichkeit dafür ab", sagt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien. "Je länger die Vertreibungssituation andauert, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit eines Verbleibs im Aufnahmeland."

Ob die geflüchteten Menschen letztlich wieder in die Ukraine zurückkehren, hängt aber auch von anderen Faktoren ab. Studien hätten gezeigt, dass die Distanz zum Heimatland eine Rolle spielt. "Das heißt, jene Geflüchteten, die über die unmittelbaren Nachbarländer wie Polen hinaus abgewandert sind, hatten von vornherein einen etwas geringer ausgeprägten Rückkehrwunsch", erklärt Kohlenberger.

Auch Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) hat die längerfristige Perspektive im Blick. "Die, die hierbleiben wollen, sollen auch in Österreich bleiben können", äußerte er sich gegenüber dem STANDARD. Gleichzeitig gelte es aber, die ukrainische Sichtweise zu beachten. Das sei letztlich auch eine Frage der Symbolik. (Nicolas Dworak, Jakob Pflügl, 24.3.2023)