Schon lange ist die Pressefreiheit in Ungarn eingeschränkt, in "seinen" Medien erscheint Viktor Orbán in positivem Licht.

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Die Anzahl unabhängiger Medien in Ungarn ist schwindend gering, ihr Überleben steht grundsätzlich auf der Kippe. Sie bekommen kaum Anzeigenkunden, keine Förderung und müssen sich um ihre rechtliche Stellung Sorgen machen. Regierungschef Viktor Orbán hat das Mediensystem zu seinen Gunsten völlig reformiert. Am meisten macht es die Arbeit für die Journalistinnen und Journalisten der unabhängigen Medien aber schwer, dass die Regierung ihnen kaum auf Anfragen antwortet.

Nun hat es einem der bekanntesten noch unabhängigen Medien wieder einmal gereicht. Das Magazin und Onlineportal "HVG" hat die Regierung verklagt, weil sie bestimmte – nicht geheime – Regierungsentscheidungen der Öffentlichkeit vorenthalte. Am 17. März verkündete dann das Budapester Stadtgericht sein erstinstanzliches Urteil. Den seit August laufenden Prozess um Daten im öffentlichen Interesse gewann "HVG".

Nach Angaben des Magazins hat die Regierung zwischen dem Regierungswechsel im Jahr 2010 und April 2022 insgesamt 1.836 politische Entscheidungen getroffen, die der Öffentlichkeit verborgen blieben. Auf Fragen haben die Beamtinnen und Beamten immer das Gleiche geantwortet: Die Beschlüsse seien für zehn Jahre ab Inkrafttreten nicht öffentlich, da sie als "vorbereitendes Material" betrachtet würden.

Keine Rechtsgrundlage

Diese Behauptung wurde durch das jüngste Gerichtsurteil widerlegt. Bleibt es bei dem Urteil, müsste die Regierung mehr als 30 Beschlüsse veröffentlichen. Selbst hätten Regierungsvertreter keine Informationen herausgegeben, obwohl die Zehnjahresfrist bei Entscheidungen von 2010 bis 2012 beendet ist, berichtet "HVG".

Zum Hintergrund: In Ungarn wird nur ein Teil der Regierungsentscheidungen offiziell veröffentlicht. Darüber hinaus gibt es Beschlüsse, die als geheim eingestuft werden, da sie für die nationale Sicherheit sensibel sein können. Außergewöhnlich ist dies nicht, geheime politische Entscheidungen gibt es überall auf der Welt.

In Ungarn gibt es jedoch noch eine dritte Kategorie von Regierungsbeschlüssen: die "Zweitausender"-Beschlüsse (sie werden so genannt, weil diese Beschlüsse jeweils mit einer vierstelligen Zahl, beginnend mit zwei, bezeichnet werden). Sie sind nicht geheim, aber werden in der Regel nicht offiziell veröffentlicht, sondern nur denjenigen mitgeteilt, die von der Entscheidung betroffen sind. Zwar kommuniziert die Regierung, wie viele dieser "Zweitausender"-Entscheidungen in einem Jahr getroffen wurden, sie gibt aber deren Inhalt nicht preis.

Whistleblower geben Auskunft

Durch Zufall kommen einige der Resolutionen manchmal ans Licht, etwa wenn diejenigen, denen sie zugesandt werden, Informanten sind. Das letzte Mal, dass ein solcher "Zweitausender"-Regierungsbeschluss ans Licht kam, war im vergangenen Herbst. Damals leakte jemand den Beschluss "2257/2022" an die Medien.

Im Wesentlichen beinhaltete dieser, dass die Regierung alle Zahlungen für einen Monat einschränkte, um Geld zu sparen. Bis auf einige wenige Posten im Staatshaushalt wurden keine Ausgaben getätigt, wenn sie keine Lohnkosten darstellten. Damals dementierte die Regierung auf weitere Anfragen, dass es diesen Beschluss gab.

Letztes Jahr beschloss "HGV", die Entscheidungen der Regierung Orbán aus den Jahren 2010, 2011 und teilweise 2012 zu untersuchen, bei denen die Zehnjahresfrist bereits verstrichen ist. "Worum genau es sich bei diesen Regierungsentscheidungen handelt, wissen wir nicht, weshalb wir auch nachgefragt haben", erzählt der Initiator der Klage und Redakteur bei "HVG", Tibor Lengyel, dem STANDARD.

Marius Dragomir vom internationalen Media and Journalism Research Center, das bis Oktober 2022 zur Central European University (CEU) gehörte, untersucht die Medienlandschaft in Ungarn schon lange. Es gebe auf jeden Fall viele Informationen, die die Regierung geheim halte, sagt er.

"Ich vermute, dass sie mit fragwürdigen Geschäften von Regierungsstellen zu tun haben, wie etwa mit Entscheidungen über die Verwendung von Steuergeldern." Ein weiterer Grund, die Informationen zurückzuhalten, sei, unabhängigen Journalisten das Leben zu erschweren, indem sie Zeit für Gerichtsprozesse aufwenden müssen.

Zeit für Berufung

"Ihre Begründung war unglaubwürdig, denn es war ganz klar, dass sie nur eine rechtliche Ausrede suchten, um uns die Entscheidungen von vor zehn bis zwölf Jahren nicht zu geben." Das Gerichtsurteil sei aber noch nicht endgültig, so Lengyel.

Die Regierung habe nun 15 Tage Zeit, um bei einer höheren Instanz Berufung einzulegen, wo eine neue Entscheidung getroffen würde. Lengyel sieht trotz allem schon jetzt einen kleinen Sieg für die Pressefreiheit in Ungarn. Zuerst muss aber noch das Oberste Gericht zugunsten von "HVG" entscheiden und die Regierungsentscheidungen tatsächlich veröffentlichen, bevor der Sieg wirklich erreicht ist.

Bereits in der Vergangenheit haben "HVG" und andere Medien in Ungarn Ministerien und die Regierung verklagt, weil sie öffentliche Daten nicht publikmachen wollten. "Dies ist oft die einzige Möglichkeit, an viele Informationen zu gelangen", sagt Lengyel. Das Überleben der Wochenzeitung "HVG" und der Onlineplattform werde immer schwieriger, ergänzt er.

"Das Traurige ist, dass wir die Regierung verklagen müssen, die versucht, ihre Entscheidungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen." Die Gerichte in Ungarn könnten im Prinzip aber immer noch als unabhängig angesehen werden. "In diesem speziellen Fall waren die Einwände der Regierung lächerlich, sodass wir einen endgültigen Sieg erwarten."

Der STANDARD hat auch Regierungssprecher Zoltán Kovács und das Innenministerium um Kommentar ersucht, warum sie die Beschlüsse nicht öffentlich machen wollen. Beide blieben eine Antwort schuldig. (Melanie Raidl, 21.3.2023)