Bis zu seinem Aussterben vor drei Millionen Jahren rangierte das räuberische Beuteltier Thylacosmilus atrox in Südamerika wohl ziemlich weit oben in der Nahrungskette. Etwa von der Größe eines modernen Jaguars, zeichnete sich das Tier vor allem durch seine gewaltigen, säbelzahnartigen Eckzähne aus. Man nimmt heute an, dass es sich zu mindestens 70 Prozent von Fleisch ernährte.

Ungewöhnlich war auch die Anordnung seiner Augen: Die Augenhöhlen waren nicht, wie unter Raubtieren üblich, nach vorne gerichtet, sondern vielmehr zur Seite, wie bei einer Kuh oder einem Pferd. Schuld waren wiederum die gewaltigen Hauer, deren Wurzeln im Oberkiefer so weit in den Schädel hineinragten, dass für nach vorn gerichtete Augenhöhlen kein Platz mehr blieb.

Etwa so könnte Thylacosmilus atrox zu Lebzeiten ausgesehen haben – ein bisschen wie eine Mischung der "Ice Age"-Charaktere Sid und Diego.
Illustr.: Jorge Blanco

Stereosehen für den Jagderfolg

Warum Raubtiere bevorzugt nach vorne blicken, liegt auf der Hand: Diese Ausrichtung der Augen ermöglicht stereoskopisches (also räumliches) Sehen, was Löwen, Wölfen und Co die Entfernungseinschätzung und damit die Jagd erleichtert. Blieb dem Beutelräuber Thylacosmilus mit dem Kuhblick 3D-Sehen also versagt? Ein Forschungsteam um Charlène Gaillard vom argentinischen Forschungsinstitut Inaglia in Mendoza hat sich dieselbe Frage gestellt.

Thylacosmilus atrox gehörte zu den sogenannten Sparassodonta, einer vielgestaltigen Gruppe von Beuteltieren, die allesamt Fleischfresser waren. Die meisten Spezies ähnelten in Größe, Körperbau und Anordnung der Augen modernen Katzen und Hunden. Nur Thylacosmilus schlug aus der Art, nicht nur größenmäßig. Durch seine wie bei Huftieren positionierten Augenhöhlen überschneiden sich die Gesichtsfelder eigentlich nicht genug, damit das Gehirn sie in 3D-Bilder integrieren kann.

Eckzähne, die alles dominieren

Um hinter das Geheimnis seines Jagderfolgs zu kommen, haben die Forschenden sein Sehsystem und die knöchernen Strukturen rundherum genauer unter die Lupe genommen. "Man kann den Aufbau des Schädels von Thylacosmilus nicht verstehen, ohne sich zuerst mit den enormen Eckzähnen auseinanderzusetzen", sagt Gaillard. "Die waren nicht nur groß, sondern wuchsen auch immer weiter. Ihre Wurzeln ragten über die Schädeldecke hinaus." Das hatte letztlich auch Konsequenzen für die Lage der Augen.

Gaillard nutzte CT-Scans und virtuelle 3D-Rekonstruktionen, um die Organisation der Augenhöhlen bei einer Reihe von ausgestorbenen und modernen Säugetieren zu untersuchen. Der im Fachjournal "Communications Biology" präsentierte Vergleich mit den anatomischen Gegebenheiten bei Thylacosmilus lieferte dem Team schließlich einen Eindruck davon, wie die Welt für dieses Tier ausgesehen haben könnte.

Rekonstruktion des Schädels von Thylacosmilus atrox. Die Wurzeln der großen Eckzähne reichten bis zur Schädeldecke.
Illustr.: Jorge Blanco

Genug 3D-Vision

Diese war offenbar doch dreidimensionaler, als man bisher angenommen hatte: "Thylacosmilus konnte die seitliche Position der Augen kompensieren, indem seine Augenhöhlen sich allmählich vom Schädel entfernten und sich fast vertikal ausrichteten", sagte Koautorin Analia M. Forasiepi. "Dadurch gelang es, die Überlappung des Gesichtsfeldes so weit wie möglich zu vergrößern." Letztlich ergab sich so eine Gesichtsfeldüberschneidung von 70 Prozent – genug für ein erfolgreiches Raubtierleben.

Die Verschiebung der Augen auf die Schädelseiten hatte noch eine weitere Folge: Sie befanden sich nun in der Nähe der Kaumuskeln, wie das Forschungsteam erklärt. Damit dies nicht zu einer Verformung beim Fressen führte, hat die Art dort – ähnlich wie andere Säugetiere – eine spezielle knöcherne Struktur entwickelt. Die Forschenden sehen darin ein weiteres Beispiel für Konvergenz unter nicht verwandten Arten.

Warum die großen Zähne?

Doch warum überhaupt diese massive Umgestaltung zugunsten riesiger, ständig wachsender Zähne? Ob eher Vorteile beim Nahrungserwerb entscheidend waren oder Thylacosmilus atrox potenzielle Partner mit den Hauern beeindrucken wollte, bleibt vorerst ein Rätsel. Eines sei jedoch klar, meinte Forasiepi: Thylacosmilus sei keine Laune der Natur gewesen, sondern habe zu seiner Zeit als Raubtier, das wahrscheinlich aus dem Hinterhalt angriff, hervorragend sein Auskommen gefunden. "Wir mögen ihn als Anomalie betrachten, weil er nicht in unsere vorgefassten Kategorien passt, wie ein richtiger Säugetierfleischfresser aussehen sollte, aber die Evolution macht ihre eigenen Regeln", meinte die Forscherin. (Thomas Bergmayr, red, 22.3.2023)