"The Line" soll das Herzstück der von Kronprinz Mohammed bin Salman erdachten Megacity Neom im Nordwesten Saudi-Arabiens werden, beginnend am Roten Meer, endend in der Wüste.

Foto: AFP/Neom (Rendering)

Sand, so weit das Auge reicht. Nur vereinzelt ein verhungerter Strauch da, ein windschiefer Baum dort – Trockenheit, die wehtut. Dazwischen Ölfelder, auf denen austretendes Gas abgefackelt statt abgeleitet wird. Die züngelnden Flammen sind vom Flugzeug aus gut sichtbar. Dazu Städte, die für Autos gebaut wurden, nicht für Fußgänger und Fußgängerinnen. Das ist Saudi-Arabien.

Bis vor kurzem noch gaben hier ausschließlich Männer den Ton an. Frauen durften weder arbeiten gehen noch Autos lenken, Letzteres nicht einmal mit Zustimmung ihres Ehemanns. In der Öffentlichkeit konnten sich Frauen nur stark verhüllt zeigen. Musik in Cafés, Restaurants und Shoppingmalls, sofern es welche gab, war verpönt, Konzerte sowieso. Das alles bröckelt jetzt.

Weitere Tabubrüche werden folgen, irgendwann vielleicht sogar die Aufhebung des Alkoholverbots. Das wäre dann nur die Legalisierung von etwas, das hinter dem Schutz hoher Mauern, und beileibe nicht nur dort, jetzt schon passiert, wie Eingeweihte dem STANDARD bei einem Lokalaugenschein erzählen.

Kronprinz Mohammed bin Salman, genannt MBS, will Saudi-Arabien auf die Zeit nach dem Öl vorbereiten.
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Das flächen- und bevölkerungsmäßig größte Land im Nahen Osten ist in rasantem Umbruch. Kronprinz Mohammed bin Salman, abgekürzt MBS, will Saudi-Arabien in eine neue Umlaufbahn schicken. Mit Investitionen gigantischen Ausmaßes, auf die saudische Vertreter bei einem Besuch von Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) dieser Tage in Riad mit Stolz hinwiesen, soll das in weiten Teilen immer noch erzkonservative Land in die Zukunft katapultiert werden.

Zupass kommt dem Prinzen, der ob seiner mutmaßlichen Verstrickung in die 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul verübte brutale Ermordung des Saudi-kritischen Washington Post-Kolumnisten Jamal Khashoggi im Ausland umstrittener ist als im Inland, die Demografie: 65 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 35 Jahre, 60 Prozent jünger als 30. Und es sind vor allem die Jungen, die nach Veränderung gieren.

Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) traf bei einem Arbeitsbesuch in Saudi-Arabien dieser Tage eine Reihe von Ministern, darunter auch Handelsminister Majid Al Quassabi.
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MBS hat das Ziel vorgegeben: Bis 2030 soll das Land in eine Hightech-Nation verwandelt werden, wobei dem Öl bei weitem nicht mehr die Rolle zukommen wird wie aktuell. Jedenfalls soll Saudi-Arabien dann mächtiger sein als jetzt. Es ist ein monströser, surreal anmutender Plan, ein Märchen aus Tausendundeine Nacht, das neu geschrieben wird. Am Geld jedenfalls wird es nicht scheitern.

Einnahmen aus Öl

Rund 3500 Milliarden Dollar, umgerechnet etwa 3260 Milliarden Euro, dürften die sechs Golfstaaten bei anhaltend hohen Energiepreisen allein in den kommenden fünf Jahren mit dem Verkauf von Öl und Gas verdienen, eine gewaltige Summe; der Löwenanteil davon entfällt auf Saudi-Arabien. Das ist zum Teil Wladimir Putin geschuldet. Weil Europa nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine seine Energie nicht mehr aus Sibirien bezieht, braucht es saudisches Öl sowie Gas aus Katar – koste es, was es wolle.

Eines der Vorhaben in der Wüste ist so gigantisch wie vielleicht kein anderes seit dem Bau der Pyramiden. An die 30.000 Bauarbeiter graben bereits in Neom im Nordwesten Saudi-Arabiens. Flächenmäßig entspricht die Region fast einem Drittel Österreichs. Bald schon sollen es 300.000 sein. In nur einem Jahr wurde dort eine Wohnstadt für knapp 4000 Ingenieure, Techniker und Projektplaner aus aller Welt errichtet. Das ist aber erst der Anfang.

Am Ende soll hier eine 170 Kilometer lange, 200 Meter breite und 500 Meter hohe Stadt stehen, eingehaust und zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben. Das Projekt heißt "The Line".

Außenansicht eines Teils der geplanten, 170 Kilometer langen, 200 Meter breiten und 500 Meter hohen Linienstadt, die CO2-frei sein und zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll.
Foto: afp/neom

In der "Linienstadt" und den geplanten Trabanten, die am Roten Meer aus dem Boden gestampft und aus Felsen gesprengt werden, sollen dereinst an die neun Millionen Menschen leben, ohne Autos, dafür mit viel Grün. Ein revolutionäres Transportsystem soll es erlauben, in maximal 20 Minuten an jedem Punkt der Stadt zu sein, und sei er 170 Kilometer entfernt.

Wohnparks, Schwimmbäder, selbst Stadien finden sich zwischen den Außenwänden des überlangen, liegenden Wolkenkratzers, wie man aus Planungsunterlagen herauslesen kann. Aus Österreich ist Coop Himmelb(l)au Teil des internationalen Architektenteams, das vom Kronprinzen mit dem Feinschliff von "The Line" betraut worden ist.

Damit eifere MBS nicht nur Nachbarn wie Dubai nach, das den Tourismus viel früher als wichtige Einnahmequelle für sich entdeckt hat. Wobei das Emirat, weil selbst arm an Erdöl, gezwungen war, sich neu zu erfinden. Der Kronprinz habe sicher den Ehrgeiz, alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

Eine Art Labor

Neom sei als eine Art Labor angelegt, wo man neue Erkenntnisse auf allen möglichen Gebieten gewinnen wolle, sagt Österreichs Botschafter in Riad, Georg Pöstinger. Saudi-Arabien sei auf Know-how von außen angewiesen – eine große Chance gerade auch für österreichische Unternehmen mit Expertise im Greentech-Bereich, sich einzubringen.

Die Kosten für "The Line" dürften, vorsichtig geschätzt, rund 800 Milliarden Dollar betragen. Einen Teil soll der saudische Staatsfonds übernehmen, der einer der größten der Welt ist. Seine Kassen sind aufgrund der sprudelnden Petrodollars mit fast 700 Milliarden Euro gefüllt. Um private Investoren anzulocken, soll es in der Region ein eigenes Steuer- und Arbeitsrecht geben. Auch über eine eigene autonome Justiz wird nachgedacht.

In der acht Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Riad fallen die politischen Entscheidungen, welche Richtung das größte Land im Nahen Osten künftig einschlägt.
Foto: enzo holey

Ob, wie in der Vision 2030 von MBS vorgegeben, tatsächlich alles so umgesetzt wird wie geplant, sei dahingestellt. Die verbleibenden sieben Jahre sind extrem knapp bemessen. "Auf der Arabischen Halbinsel hat man gerne große Ankündigungen", sagt Botschafter Pöstinger. "Wenn nur ein Viertel umgesetzt werden kann, ist das kein Problem und auch nicht peinlich."

Der Vision 2030, die für eine Aufbruchstimmung im Land gesorgt hat, ist alles untergeordnet. Kritik am Prinzen ist nicht zu hören, egal, mit wem man spricht; kritische Fragen können Regierungsvertretern, geschweige denn MBS selbst, nicht gestellt werden. So weit geht die Öffnung noch nicht.

Blick vom höchsten Gebäude der Stadt auf Riad: Lange Staus sind das tägliche Brot der Menschen, die zur Arbeit müssen oder woanders hinwollen – die U-Bahn mit sechs Linien harrt noch ihrer Eröffnung.
Foto: enzo holey

Neben Tourismus, erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff ist Saudi-Arabien dabei, eine eigene Elektroautoproduktion aufzuziehen. Dies geschieht unter tatkräftiger Mithilfe österreichischer Fachkräfte, die von Magna und AVL List abgeworben wurden. Ceer, was auf Arabisch "fahren" bedeutet, soll von 2025 an Elektro-SUVs und Limousinen produzieren. Basis ist ein Joint Venture, das der Public Investment Fund (PIF) mit dem taiwanesischen Apple-Auftragsfertiger Foxconn gegründet hat. Die neue Automarke soll die Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit in Saudi-Arabien unterstützen, um den Klimawandel zu bekämpfen.

Starkregen und Hagelschlag: Auch Saudi-Arabien hat zunehmend mit Wetterturbulenzen zu tun.
Foto: enzo holey

Diesen spürt man auch auf der Arabischen Halbinsel zunehmend. Plötzlicher Starkregen kombiniert mit heftigem Hagelschlag Mitte März – das gab es in Saudi-Arabien bisher fast nie. Die Bevölkerung müsse, sagen Experten, nun öfter damit rechnen. Die Menschen nehmen die Wetterkapriolen noch mit Staunen und Wohlwollen zur Kenntnis; das Verkehrschaos, ohnehin grandios in Riad, verschärft sich noch mehr, wenn das Wasser auf den mehrspurigen Stadtautobahnen der Acht-Millionen-Metropole plötzlich knöchelhoch steht. (Günther Strobl aus Riad, 22.3.2023)