Ischgl möchte ein Zeichen setzen, damit alle wissen, dass man sich um Nachhaltigkeit bemüht. Zwei Jahre lang schmückte sich die Tiroler Wintersportregion mit dem Gütesiegel "klimaneutral", lockte in einer Aussendung 2019 sogar als "größtes klimaneutrales Skigebiet der Alpen". Damals hieß es vonseiten der Silvrettaseilbahn AG, dass der gesamte CO2-Ausstoß, der durch den laufenden Ski- und Gastronomiebetrieb entsteht, ab sofort über Aufforstungsprojekte in Peru und im Tiroler Paznaun ausgeglichen werden soll. "Mit neuen Bäumen zum klimaneutralen Skigebiet", titelte die Tiroler Tageszeitung.

Hypothetische Einsparung

Recherchen des STANDARD zeigen, dass die neuen Bäume nie gepflanzt wurden, jedenfalls nicht in Peru. Bei dem Kompensationsprojekt Tambopata in der peruanischen Provinz Madre de Dios, das Ischgl unterstützt hat, handelt es sich nicht um ein Aufforstungs-, sondern ein Waldschutzprojekt. Anstatt neue Bäume zu pflanzen, wird berechnet, wie viel CO2 durch eine mögliche Entwaldung freigesetzt werden würde. Die Vermeidung dieser hypothetisch freigesetzten Menge wurde Ischgl von der Münchner Firma Climatepartner in Form von CO2-Zertifikaten teuer verkauft.

Von Après-Ski bis Nachhaltigkeit: Der Wintersportort Ischgl hat sich schon des Öfteren neu erfunden.
Carlos Blanchard

Goldenes grünes Näschen

Heute ist von Ischgls Klimaneutralität nichts mehr zu lesen – weder auf der Website noch im Skigebiet. Obwohl die Kritik an CO2-Zertifikaten inzwischen lauter geworden ist, boomt das Geschäft mit den grünen Labels nach wie vor. Nachhaltigkeit gilt als chic. Und Unternehmen können sich mit grünen Versprechen ein goldenes Näschen verdienen. Eine Studie von europäischen Verbraucherschutzbehörden kam Ende 2020 zu dem Schluss, dass 42 Prozent der 344 untersuchten Nachhaltigkeitslabels übertrieben, falsch oder irreführend sind.

Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit deckte kürzlich ein rund um Zwischenhändler geknüpftes Netzwerk auf, in dem "systematisch manipuliert" wird. Ihr Fazit: Unternehmen haben sich offenbar über Jahre mit Zertifikaten freigekauft, die viel weniger CO2 einsparen als versprochen. Zahlreiche Unternehmen prüften daraufhin Konsequenzen. Hat auch Ischgl reagiert?

Nachhaltigkeit wurde niedriger priorisiert

Natürlich habe er diese kritischen Töne vernommen, räumt Günther Zangerl, Vorstand der Silvrettaseilbahn AG, ein. Dass Ischgl heute kein Gütesiegel mehr trägt, hat aber andere Gründe. Die Nachhaltigkeitsfrage wurde schlicht von anderen Themen "überlagert": Corona, die steigenden Energiepreise. Nachhaltigkeit wurde in dieser Zeit "niedriger priorisiert", Corona sorgte für große Unsicherheit. Das teure Logo wollte man sich nicht mehr leisten, ungefähr 120.000 Euro habe es pro Jahr gekostet.

Seilbahnchef Günther Zangerl hat festgestellt: Nachhaltigkeit wird den Gästen immer wichtiger. Dass man sich wieder um ein "Klimaneutral"-Siegel bemüht, schließt er nicht aus.
Carlos Blanchard

Für das STANDARD-Interview hat sich Zangerl noch ein grau meliertes Jacket übergeworfen. Während des Gesprächs rutscht er auf seinem Sessel hin und her. Immer wieder greift er an die Kante des glattpolierten Holztisches. Fast so, als würde er am liebsten aufstehen und den Raum verlassen. Es ist ein Montag Mitte März, die Sonne fällt durch die hohen Fenster, draußen hat es um die acht Grad. Der Kunstschnee auf der Piste ist zu grobkörnigen, schweren Bröseln geschmolzen, über die die Gäste auf Boards und Skiern talwärts rutschen. Im weitläufigen Skigebiet, das Großteils oberhalb von 2000 Metern liegt und bis in die Schweiz reicht, herrscht reges Treiben.

Nichts falsch gemacht in Tirol

"Ich glaube nicht, dass wir da einen Fehler gemacht haben", kommentiert Zangerl das Werben mit der Klimaneutralität. Waldschutzprojekte wie jenes in Tambopata beruhen auf einer Spekulation über die Zukunft. Zertifizierer berechnen mit eigens entworfenen Regelwerken, wie viel Wald vermutlich abgeholzt worden wäre, hätte es das Kompensationsprojekt nicht gegeben. Der deutsche Verband Foodwatch kommt in seinem aktuellen Jahresreport jedenfalls zu dem Schluss, dass Tambopata zum Klimaschutz völlig ungeeignet ist.

Dass das Projekt in Peru "kein klassisches Aufforstungsprojekt" ist, sondern "in eine andere Richtung geht", war auch Zangerl bewusst. Allerdings war ihm die Kritik an Waldschutzprojekten damals nicht bekannt, rechtfertigt er sich. Es habe wenige, vor allem aber keine regionalen Alternativen gegeben. "Aufgrund der Optik" habe man sich deshalb damals dazu entschieden, auch vor Ort, also im Paznaun, Bäume zu pflanzen. Zehntausende Pflänzchen wurden im Laufe der vergangenen Jahre eingesetzt, ist auf der Website zu lesen.

Im Paznaun wurden sehr wohl Bäume gepflanzt

Dort wird die Aktion mittlerweile als freiwilliges Naturschutzprojekt deklariert, das nicht in die Klimabilanz des Skigebietes mit eingerechnet wird. 2020 klang das anders: Damals stand auf derselben Seite, dass alle nicht vermeidbaren Treibhausgasemissionen mit ebendiesem Aufforstungsprojekt und jenem in Peru ausgeglichen werden würden.

An der Talstation der Fimbabahn in Ischgl liegt noch ein altes Magazin aus dem Jahr 2020 auf. Auf der Titelseite prangt das "Klimaneutral"-Label.
Carlos Blanchard

Für Zangerl ist Climatepartner ein "seriöser Partner", der seiner Ansicht nach "gewissenhaft gearbeitet" habe. Auch die Münchner Firma ist von ihrer Leistung überzeugt. Die Kritik von Foodwatch habe man in einem eigenen Faktencheck vollständig widerlegen können, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber dem STANDARD. Am Waldschutz als "unverzichtbarem Baustein im Klimaschutz" wolle man jedenfalls festhalten.

Das Unternehmen stellt ferner klar, dass es in seiner Kommunikation klar zwischen dem Aufforstungsprojekt im Paznaun und "einem internationalen Projekt in Peru" unterschieden habe. Ischgl habe die Informationen offenbar "verwechselt". Das sei aber laut Unternehmenssprecher Dieter Niewierra "nur menschlich".

Transparenter Fußabdruck

Die Erneuerung des Gütesiegels für die kommende Saison zieht Ischgl jedenfalls wieder in Erwägung. Um die grünen Bemühungen zu untermauern, brauche es aber auch seriöse Vergleichswerte. Aufgrund der durch die Pandemie verkürzten und ausgefallenen Wintersaisonen wären die Daten verfälscht.

Außerdem trumpft der Skiort seit kurzem mit einer neuen Attraktion auf: einem Wellnesstempel, der auch der Silvrettaseilbahn AG zuzurechnen ist. Die Therme müsste in die Berechnung des aktuellen CO2-Fußabdrucks jedenfalls mit einfließen, betont Zangerl. Er pocht auf "Transparenz" und meint damit, dass der Skisportort offenlege, "dass es ein Unternehmen ist, das einen CO2-Fußabdruck hat", der auch "nie gegen null gehen wird". Geht es nach ihm, sollten noch mehr Unternehmen CO2 kompensieren. (Anna Wielander, Maria Retter, 22.3.2023)