Dunkle Wolken über Mercedes-Benz: Ein Urteil des EuGH ist für den Stuttgarter Autobauer nicht vorteilhaft, verpflichtet zu Schadenersatz. Und Razzien wegen Verdachts der Bestechlichkeit gibt es auch noch.

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Wien/Luxemburg – Die Argumente, warum Automobilhersteller für Abgastricksereien doch nicht haften müssten, werden weniger. Seit Dienstag gibt es einen Hoffnungsschimmer mehr für Dieselautobesitzer: Der Käufer eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung hat gegen den Fahrzeughersteller Anspruch auf Schadenersatz, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist. Dafür reiche eine einfache Fahrlässigkeit, es brauche keinen Vorsatz des Fahrzeugherstellers.

Das ist die Kernaussage des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der sein Urteil im Fall eines deutschen Fahrzeughalters gesprochen hat, der im März 2014 einen gebrauchten Mercedes D220 CDI bei der Mercedes-Benz Group (vormals Daimler AG) gekauft hatte.

Abgasrückführung gedrosselt

Stein des Anstoßes ist die verharmlosend als Thermofenster berühmt gewordene temperaturgesteuerte Abschaltautomatik in der Abgasreinigung. Die Abgasrückführung von Dieselfahrzeugen diverser Fahrzeughersteller wird dabei bei bestimmten Außentemperaturen gedrosselt oder ganz außer Kraft gesetzt, sodass höhere Stickstoffoxidemissionen (NOx) aus dem Auspuff in die Umwelt gelangen.

Über diese Automatik tobte ein wilder Streit, denn sie sei, betonten Daimler, Volkswagen und Co, von der deutschen Zulassungsbehörde in Flensburg, dem Kraftfahrtbundesamt (KBA), zum Schutz des Motors (vor Versottung) und damit vor Unfällen genehmigt worden.

Thermofenster ist nicht Thermofenster

Dieses sogenannte Thermofenster ist nicht zu verwechseln mit der 2015 bei Volkswagen in VW-, Audi-, Škoda- und Seat-Modellen (Baureihe EA189) verbauten Abschaltautomatik, die erkannte, ob das Fahrzeug auf dem Rollenprüfstand stand und nur dann volle Leistung in der Abgasreinigung erbrachte. Diese Abschalteinrichtung war bereits im ersten Bericht der Untersuchungskommission "Volkswagen" des KBA als unzulässig erkannt worden. Daraufhin mussten Millionen Fahrzeuge zurückgerufen werden, die Abgassteuerung wurde mittels Software-Updates neu konfiguriert und der Mangel saniert, was allerdings laut späteren Tests im realen Fahrbetrieb bisweilen nur leidlich gelang.

Der EuGH verweist in seinem Spruch relativ oft auf sein erstes richtungsweisendes Urteil zum Thermofenster vom 22. Juli 2022 . Es wurde auf Ersuchen um Vorabentscheidung des Landesgerichts Klagenfurt entschieden. Der Gerichtshof definiert eine Abschalteinrichtung als "Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb zu erwarten sind, verringert wird". Eine Abschalteinrichtung, die die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nur gewährleistet, wenn die Außentemperatur zwischen 15 und 33 Grad liegt und nur unter tausend Höhenmetern ist demnach gemäß EU-Verordnung unzulässig. Denn dadurch würde das vorgesehene Verbot ausgehöhlt, schreibt der EuGH, es würde während des überwiegenden Teils eines Jahres nicht gelten.

Fahrlässig oder vorsätzlich?

Der Innsbrucker Rechtsanwalt Martin Moser liest den Spruch so: Der EuGH habe inzwischen die Strategie der Autohersteller durchschaut: Dass nämlich bei der Abgasreinigung nicht der Stand der Technik verbaut wurde und vor allem, dass es egal ist, ob dies absichtlich oder fahrlässig unterlassen wurde.

Bei einfacher Fahrlässigkeit könne nach deutschem Recht ein Schadenersatzanspruch gegeben sein, teilte der EuGH nun mit, "wenn gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstoßen wurde". Heißt, salopp formuliert: Die EU-Richtlinien dienen nicht ausschließlich dem Schutz von Umwelt und Gesundheit, sondern auch dem Vermögen. Denn gemäß EU-Typgenehmigungsverordnung 715/2007 sind Abschalteinrichtungen, die höhere NOx-Emissionen zur Folge haben, in leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen verboten. Eine solche Abschalteinrichtung könne sogar die EU-Typgenehmigung infrage stellen, heißt es im Urteil.

Keine Selbstläufer

Mercedes-Benz erklärte, es bleibe abzuwarten, wie die nationalen Gerichte die EuGH-Entscheidung anwendeten. "Der EuGH hat klar betont, dass es nur um den Schaden geht, der einem Käufer tatsächlich entstanden ist", berichtete Reuters unter Verweis auf eine Stellungnahme des Unternehmens. Auch müsse eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen, was im vorliegenden Fall streitig sei. Damit ist klar, dass bereits laufende Verfahren keine Selbstläufer werden. Mercedes-Benz und Volkswagen werden darauf drängen, dass dieser Beweis vor Gericht erbracht wird.

Verbraucherschützern ist der vom Landgericht Ravensburg erwirkte Spruch Wasser auf ihre Mühlen. Tausende Fahrzeugbesitzer könnten nun doch noch zu Schadenersatz kommen. "Entscheidend wird nun sein, dass die Unzulässigkeit der Abschalteinrichtungen abschließend gerichtlich festgestellt wird", erklärte der Anwalt der Deutschen Umwelthilfe, Remo Klinger.

Nutzungsentgelt frisst Schadenersatz

Was Schadenersatz in angemessener Höhe ist, dazu ist das Höchstgericht nicht ganz so klar. Es sei Sache der Mitgliedsstaaten, die Modalitäten festzulegen. Dafür stellt er aber Leitplanken auf: Es könne nicht sein, dass ein Dieselbesitzer keinen Schadenersatz bekomme, weil das Nutzungsentgelt, das für den Gebrauch des Fahrzeugs vom Kaufpreis abgezogen wird, so hoch ist wie der seinerzeitige Kaufpreis. Verbraucher würden den Schaden nach 250.000 Kilometern Laufleistung "verfahren", sagt der mit Sammelverfahren des Vereins für Konsumenteninformation gegen VW befasste Rechtsanwalt Michael Poduschka. "Das geht jetzt nicht mehr."

Den EU-Mitgliedsstaaten erteilt der EuGH des weiteren einen Arbeitsauftrag: Es sei ihre Aufgabe, die Sanktionen im Fall der Nichtbeachtung der Richtlinienbestimmungen festzulegen. "Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein." Die nationalen Gerichte haben dafür zu sorgen, dass sich Anspruchsberechtigte angemessenen Schadenersatz bekommen, sich dabei aber nicht ungerechtfertigt bereichern.

Razzia bei Mercedes-Benz

Mercedes-Benz hat inzwischen andere Sorgen. Es gab eine Razzia beim Stuttgarter Autobauer im Zuge von Korruptionsermittlungen, teilte der Konzern mit, man habe Anzeige erstattet. Laut Staatsanwaltschaft Stuttgart geht es um den Verdacht der "gewerbsmäßigen Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr". Die Ermittlungen richteten sich gegen zwei Mitarbeiter des Unternehmens. Laut Bild soll es um Millionen gehen. Die Beschuldigten hätten erwirkt, dass bestimmte Lieferanten bei Bestellungen den Zuschlag bekamen, und sie selbst kassierten dafür Belohnung. (Luise Ungerboeck, 21.3.2023)