Boris David Seidl: "Das Verständnis für Eis ist in Brasilien bescheiden."

Foto: Anthony Kozlowski

Brasilien und Eis, da denkt man zunächst an Caipirinha. 2020 wurde das Spektrum mit der Eröffnung der Arena Ice Brasil erweitert, seither werden in São Paulo nördliche Riten zelebriert: Eishockey, Eiskunstlauf, Shorttrack und eben Curling. In der ersten Curling-Anlage des Kontinents wird auf drei Spielflächen geschoben und gewischt. Zum Vergleich: In der größten Halle von Österreich werden nur zwei Bahnen bespielt.

"Die Infrastruktur ist hier besser, perfekte Bedingungen sind es aber nicht", sagt Boris Seidl. Er trainiert seit vergangenem Sommer das brasilianische Nationalteam. Unter der Leitung des 42-jährigen Oberösterreichers soll das Trainingsumfeld optimiert werden. "Das Verständnis für Eis ist in Brasilien eher bescheiden", sagt der Coach. Unter zwölf Millionen Einwohnern wird es in São Paulo künftig je zwei von Seidl ausgebildete Trainer und Eismeister geben.

Aber wie hat es Seidl überhaupt nach Brasilien verschlagen? Die Kurzversion: "Ich habe gelesen, dass ein Nationalcoach gesucht wird. Das klang interessant. Jetzt bin ich in São Paulo." Die Abenteuerlust hat den Mann trotz mangelnder Portugiesischkenntnisse nach Südamerika getrieben. Seidl: "Ich war immer viel unterwegs. Als Straßenmusiker bin ich mit der Gitarre um die Welt gefahren."

Seidl lehrt in Brasilien die richtige Körperhaltung.
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Der Musikus ist aber keineswegs ein Quereinsteiger, sondern ein Experte seines Fachs: "Ich habe 2002 mit meinem Bruder die Curling-Bewerbe der Winterspiele von Salt Lake City verfolgt. Der Sport hat mich mit seiner Präzision gleich fasziniert." Der Sportlehrer gründete in Oberösterreich den CC Traun und führte später am Gymnasium von St. Johann in Tirol Curling als Wahlfach ein. Mit dem österreichischen Nachwuchs feierte Coach Seidl Erfolge, nachhaltig genutzt wurde das Schulsportprojekt aber nicht. Curling ist die einzige Wintersportart, in der Österreich noch nie olympisch vertreten war.

Brasilien hat bei Winterspielen noch keine einzige Medaille geholt, war 2022 in Peking aber immerhin mit zehn Aktiven vertreten. Bob, Skeleton, Buckelpiste – Ordem e Progresso auf Eis und Schnee.

Und Curling? Geht da was im Zeichen der fünf Ringe? Nun, die Ergebnisse sprechen nicht für eine baldige Teilnahme. Bei den Pan Continental Curling Championships setzte es im vergangenen Oktober reihenweise Niederlagen. In Calgary waren unter anderem die USA, Kanada, Japan und Südkorea vertreten. Also Nationen, die Eis nicht nur aus dem Gefrierfach kennen.

Curling ist paralympisch: ein Ziel für Seidls Schützlinge.
Foto: Anthony Kozlowski

"Außerhalb der Halle wissen die Leute nicht, was Curling ist. Man begeistert sich für Fußball, der Rest ist Nebensache", sagt Seidl. Für die wenigen Aktiven sei der Sport trotzdem eine Bereicherung. "Wir arbeiten auch im Behindertensport. Für mich ist das eine neue Erfahrung, ich bin begeistert. Für die Curler im Rollstuhl ist es ein riesiges Highlight. Vielleicht erreichen wir die Paralympischen Spiele." Fast alle beeinträchtigten Curler haben ihre Verletzungen durch Schusswaffen erlitten. In Brasilien sitzen die Waffen locker, São Paulo ist keine Ausnahme. "Ich habe mir alle Geschichten meiner Spieler angehört", sagt Seidl, "wir leben in einer gefährlichen Stadt."

Positive Eindrücke

Trotzdem überwiegen bei Seidl die positiven Eindrücke: "Ich war beim Karneval in Rio. Das vergisst man nicht. Brasilien ist ein buntes Land, die Energie ist einzigartig. Und Österreich kennt man auch. Vor allem Leopoldine, die Kaiserin von Brasilien. Wir haben hier einen guten Ruf. Vom Opernball wurde im Fernsehen berichtet."

Kann Curling ein ähnlich globales Ereignis werden? Seidl ist skeptisch: "Der Olympia-Hype lässt Nationen auf den Zug aufspringen. Aber muss man Curling unbedingt nach Katar und Saudi-Arabien bringen? Vielleicht sollte man besser Boccia spielen. Da kommen die Menschen auch zusammen. Und man muss dafür nicht extra Eis produzieren." (Philip Bauer, 22.3.2023)