Thomas Czypionka (46) ist Mediziner und Volkswirt. Er leitet am Institut für Höhere Studien (IHS) die Forschungsgruppe Health Economics and Health Policy.

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Zumindest 36.000 Personen sollen in Österreich von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) betroffen sein, Tendenz stark steigend. Schon seit 1969 ist das Krankheitsbild von der Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert, durch die Pandemie sind wohl Tausende Erkrankte hinzukommen. Trotzdem gibt es kaum Daten zur Lage in Österreich, kritisiert Gesundheitsökonom Thomas Czypionka.

STANDARD: ME/CFS ist noch sehr unbekannt, obwohl es bereits 1969 von der WHO als Krankheit klassifiziert wurde. Ändert sich das gerade?

Czypionka: Ja, das Thema ist jüngst größer geworden, weil Sars-CoV-2 offenbar, wie auch andere Viren, diese Erkrankung auslösen kann. Jetzt gibt es plötzlich viel mehr Betroffene. Viele Covid-Infizierte haben nach einer gewissen Zeit ME/CFS-artige Symptome entwickelt, die nicht mehr verschwinden.

STANDARD: Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Czypionka: Wenn ein guter Teil der Betroffenen chronisch krank bleibt, muss sich das Gesundheitssystem darauf einstellen. Die ME/CFS-Symptome schränken ja die Arbeitsfähigkeit sehr stark ein. Das wollen wir mit Daten erfassen und untersuchen. Ich versuche aber seit einem halben Jahr vergeblich, gute Daten zu bekommen. Wahrscheinlich werden wir uns da wieder damit begnügen müssen, Daten aus dem Ausland zu verwenden.

STANDARD: Wie viele ME/CFS-Betroffene nach Covid gibt es?

Czypionka: Das ist eben schwierig zu sagen. Das größte Problem ist die schlechte Erfassung von Diagnosen. Im niedergelassenen Bereich gibt es gar keine, und im Krankenhaus wird die Diagnose aufgenommen, wenn sie abrechnungsrelevant ist. Aber auch da rutscht vieles durch. Und epidemiologische Studien mit Kohorten gibt es in Österreich überhaupt nicht. Wir sind da epidemiologisch relativ blind. Wir müssten Sekundärdaten wie EMS-Daten, Spitalsdaten und Arbeitsmarktdaten verknüpfen.

STANDARD: Warum ist diese Verknüpfung immer noch nicht möglich?

Czypionka: An sich ist es möglich, diese Register freizugeben für die Forschung. Das könnte jeder Minister durch eine Verordnung machen. Da gibt es aber einen politischen Konsens, dass diese Daten nicht zu erforschen sind. Das Motto lautet: "Lieber mal nicht beforschen!"

STANDARD: Aber irgendwelche Zahlen muss es doch geben?

Czypionka: Ja, aber die Zahlen der Sozialversicherung über die Fälle, die im Langzeitkrankenstand sind oder in Invaliditätspension gegangen sind, entsprechen in der Größenordnung überhaupt nicht dem, was international zu ME/CFS inklusive der jetzt dazukommenden Long-Covid-Betroffenen angegeben wird. Das heißt, entweder wir haben wirklich ein kleineres Problem als andere Länder, oder die anderen überschätzen es, oder wir erfassen es eben nicht ausreichend.

STANDARD: Müsste aber eine Arbeitsunfähigkeit bei so vielen Betroffenen nicht auffallen?

Czypionka: Es muss nicht heißen, dass ich bei einer ME/CFS-ähnlichen Long Covid-Symptomatik nicht arbeiten gehen kann, sondern dass ich meine Arbeit einfach schlechter mache oder zu Teilzeit wechsle. Viele Studien gehen davon aus, dass ein bis zehn Prozent der mit Sars-CoV-2 Infizierten ME/CFS-artiges Long Covid entwickeln. Zehn Prozent scheint mir dabei viel, aber ich würde schon gerne wissen, ob es 0,5 Prozent oder ein Prozent Betroffene gibt. Das ist extrem planungsrelevant. Wie viel Ressourcen brauchen wir, um das zu behandeln? Und was passiert am Arbeitsmarkt? Wie hoch wird der Ausfall? (Levin Wotke, 22.3.2023)