Ein progressiver Diskurs verdeckt die Realität, sagt Susanne Kaiser. Und in dieser werden Frauen noch immer herabgewürdigt.

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Frauen sind heute präsenter denn je, in der Politik, in einflussreichen Jobs und auch als Expertinnen. Kaum jemand wird noch ernst genommen, der oder die eine natürliche Überlegenheit von Männern behauptet. Und trotzdem gibt es eine starke Gegenreaktion auf Gleichstellungserfolge, schreibt Susanne Kaiser in ihrem neuen Buch "Backlash – die neue Gewalt gegen Frauen". Zwar gebe es einen sehr progressiven Diskurs, dieser verstelle aber oft den Blick auf die Realität, in der zur bereits bestehenden Gewalt auch noch neue Formen von Gewalt gegen Frauen hinzukommen.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch eine widersprüchliche Situation, die Sie als "feministisches Paradox" bezeichnen. Was meinen Sie damit?

Kaiser: Seit mindestens 20 Jahren können wir einen Aufstieg von Frauen beobachten. Sie können Kanzlerinnen werden, fast wäre eine Frau US-Präsidentin geworden. Eine Frau kann die Nationalmannschaft kommentieren, bei der WM pfeifen. Jede Männerdomäne scheint inzwischen gefallen zu sein. Dazu gibt es einen sehr progressiven Diskurs in den öffentlich-rechtlichen Medien, eine sensiblere Sprache. Gleichheit, Gleichberechtigung hat also einen hohen Stellenwert, und man kann nicht mal mehr von rechter Seite eine Debatte dahingehend anstoßen, Frauen seien nicht so viel wert wie Männer.

STANDARD: Das klingt nach Fortschritt.

Kaiser: Ja, aber es gibt eine andere Seite. Nämlich den Aufstieg von autoritären Politiker:innen und autoritären Parteien. Wir hatten ein paar krasse Regimewechsel, zum Beispiel in Schweden, wo die feministische Regierung gerade von Rechten abgelöst wurde, ebenfalls in Italien. In Frankreich steht es immer wieder auf der Kippe, und in Deutschland haben wir die AfD, Österreich hat aktuell auch wieder einen Rechtsruck. Und natürlich hatte auch Trump in den USA einen großen Einfluss. Zu alldem kommt noch Online-Misogynie hinzu, Sexismus und Gewaltfantasien. Soziale Medien kommen nicht mehr ohne ein Heer von Social-Media-Manager:innen aus, die das rausfiltern müssen, trotzdem bleibt noch viel übrig. Jede zweite Frau will im Netz ihre Meinung nicht mehr äußern, Politikerinnen müssen sich regelmäßig aus dieser Öffentlichkeit zurückziehen oder hören sogar ganz auf. Heute hat sich neben armen Frauen somit noch eine neue vulnerable Gruppe herausgebildet: Akademikerinnen.

STANDARD: Aber sie hätten doch mehr Möglichkeiten, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu befreien.

Kaiser: Ja, ich denke auch, dass Akademikerinnen mehr Handlungsmöglichkeiten als arme oder weniger gebildete Frauen haben. Aber auf der anderen Seite sind auch sie und ihre Partner als Männer und als Frauen sozialisiert, und Frauen sind nicht in dem Maße gewaltbereit wie Männer. Männer werden immer noch gewaltvoll und mit Idealen der Stärke und Überlegenheit großgezogen. Das macht einfach einen Unterschied in Beziehungen. Eine Frau, mit der ich für mein Buch gesprochen habe, hat die Vergewaltigung durch ihren Partner angezeigt, aber es ist ihr nicht geglaubt worden, sondern es hieß, sie will die Karriere ihres Mannes zerstören. Der Anteil der Prozesse wegen Gewalt an Frauen ist noch immer gering. Dass jemand deshalb verurteilt wird, ist noch mal unwahrscheinlicher – da liegt die Rate bei etwa einem Prozent.

Susanne Kaiser ist Journalistin und Autorin. 2020 ist ihr Buch "Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen" erschienen. Kaiser befasst sich seit 20 Jahren mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen in muslimischen und in westlichen Gesellschaften.
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STANDARD: Sie sagen, die Gewalt gegen Frauen sei auch einem Gefühl des Kontrollverlusts von Männern geschuldet. Warum ist es nicht gelungen zu vermitteln, dass Gleichstellung auch für sie ein Gewinn sein kann?

Kaiser: Ich glaube, es gibt viele Männer, die das schon als Gewinn sehen und Gleichberechtigung nicht als Kontrollverlust empfinden. Aber Männlichkeit und Kontrolle stehen bei der Sozialisation noch immer ganz eng beieinander. Männlichkeit kann ohne Kontrolle und ohne Überlegenheit noch kaum gedacht werden. Doch seit einiger Zeit wird dieses Männlichkeitsbild problematisiert, es ist etwa von toxischer Männlichkeit die Rede, und das fühlt sich für viele als Verlust von Männlichkeit an – und von Kontrolle. Wenn gesellschaftliche Führungspositionen für Männer verloren gehen, weil Frauen diese übernehmen, dann ist auch das ein gesellschaftlicher Kontrollverlust für Männer, der sie in ihrer Männlichkeit trifft.

STANDARD: Hinter den neuen Formen von Gewalt gegen Frauen, wie es sie durch das Internet gibt, stehen oft junge Männer, die doch schon anders aufgewachsen sind. Wie erreicht der Frauenhass junge Männer?

Kaiser: Über das Internet, wo man auf extreme Misogynie trifft. Das fängt bei der riesigen Online-Pornoindustrie an, die kaum einvernehmlichen Sex zeigt, sondern in der Regel die Herabwürdigung, Demütigung und Unterwerfung von Frauen. Damit kommen schon sehr junge Menschen in Kontakt. Ein Drittel der Elfjährigen konsumiert das, und bei 16-Jährigen ist es schon fast ein regelmäßiger Konsum. Das prägt das Frauenbild extrem. Und sie bekommen auch den Hass gegen Frauen in der Öffentlichkeit mit, etwa durch Figuren wie Andrew Tate. Es ist schon erstaunlich, dass jemand mit so einfachen, klischeehaften Männlichkeitsidealen mit Muskeln, Statussymbolen wie Zigarren und Autos, so erfolgreich sein konnte. Aber so etwas hat großen Einfluss auf Jungs. Lehrerinnen erzählen, die Jungs in der Klasse respektieren sie nicht mehr, und sie sollte ihnen doch ein Sandwich machen, statt sie zu unterrichten.

Susanne Kaiser, "Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen". € 18 / 224 Seiten. Verlag Tropen, Stuttgart 2023
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STANDARD: Ist das für Jugendliche auch eine Form von Widerstand, Frauenhass cool zu finden?

Kaiser: Ja, das ist das Absurde daran: Solche Typen inszenieren sich erfolgreich als Underdogs. Ein bisschen versteht man das auch, denn womit provoziert man heute als junger Mensch noch? Wenn die Eltern gepierct sind, provokante Tätowierungen haben oder laute Musik normal finden? Doch mit autoritären Einstellungen kann man gegen antiautoritäre Eltern rebellieren, da ist also schon auch Provokation dabei. Hinzu kommt, dass Burschen mit sehr ambivalenten Erwartungen groß werden. Auf einer Seite der woke Diskurs, du musst ein Nein akzeptieren, du kannst auch Rosa tragen. Und auf der anderen Seite stoßen sie im Fernsehen, im Sport und in der Musik auf Idole, die eine Alphamännlichkeit repräsentieren – wie etwa viele Fußballstars. Wenn man mit diesen Widersprüchen groß wird, hat man nur die Wahl zwischen einem defizitären Männlichkeitsbild, dass einem gesagt wird, dass das heutzutage so nicht mehr geht, auf der einen Seite. Und ganz einfachen Antworten, dass halt alles Biologie sei und du ein Alphamann sein musst, auf der anderen Seite. Das Zweite klingt für manche dann attraktiver.

STANDARD: Sie haben mit Frauen gesprochen, die eigentlich in einem Umfeld leben, in dem Gleichberechtigung durchaus einen hohen Wert hat – und die trotzdem nur schwer oder gar nicht aus Gewaltbeziehungen herauskamen. Warum?

Kaiser: Es wird oft so eine False Balance aufgemacht – dass der Feminismus zu weit gegangen wäre, etwa mit diesem Bashing von alten weißen Männern, mit der Rede von toxischer Männlichkeit, die Männer herabwürdige. Oder dass man jetzt von gebärendem Elternteil spricht statt von Frau oder Mutter. All das wird immer als sehr extrem dargestellt – doch man muss sich ansehen, was dem gegenübersteht. Da sind Femizide, Vergewaltigungen. Diese False Balance speist sich auch daran, dass die Lebensrealitäten so unterschiedlich sind. Für Männer ist es beim Ausgehen kein Thema, ob sie jetzt ihr Getränk offen stehen lassen, aber gerade für junge Frauen ist es ein Riesenthema. Viele Männer sehen nicht, was es heißt, eine Frau zu sein, und was man da für Sicherheitsvorkehrungen treffen muss, und fragen sich: Was wollen die Feministinnen jetzt noch? Jeder zweite junger Mann denkt, dass Feminismus mehr schadet, als er nützt. Der Diskurs ist also viel weiter als die Realität. Und selbst diejenigen, die sich selbst als "Feministen" bezeichnen, können zu Hause gewalttätig gegenüber ihrer Partnerin sein. Das ist für sie kein Widerspruch.

STANDARD: Demnach haben die feministischen Erfolge auch eine Gewaltspirale mit ausgelöst. Wie kommen wir da raus?

Kaiser: Da muss man an vielen Stellen was tun. Erst mal muss Gewalt an Frauen ernst genommen und geahndet werden. In der Öffentlichkeit, zu Hause, im Netz. Dafür brauchen aber sehr viele Menschen bei der Polizei oder auch bei Familiengerichten eine bessere Ausbildung, um mehr Sensibilität für dieses Thema zu entwickeln. Alle Einrichtungen, die mit Gewalt an Frauen befasst sind, müssten viel besser finanziert werden. Außerdem muss es mehr davon geben. Und auch um die Täter muss man sich kümmern. In Kitas und Schulen muss viel mehr über Geschlechterverhältnisse gesprochen werden. Gewalt taucht schon oft in der Grundschule geschlechtsspezifisch auf: Buben sind gewalttätiger, Mädchen sind es nicht – dadurch entstehen schon die ersten Probleme. Und längerfristig brauchen wir auch eine Auflösung der politischen Bedeutung von Kategorien. Deshalb ist die Frage, in welche Richtung der feministische Diskurs geht, so wichtig.

STANDARD: Was meinen Sie mit Auflösung der Kategorien?

Kaiser: Frauen sind von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen, weil sie Frauen sind. Wir müssen bei feministischer Identitätspolitik also ganz genau überlegen: Wollen wir immer, dass Frauen als Frauen sichtbar werden? Bei der Debatte um Transfrauen zum Beispiel verteidigen manche Feministinnen ihre Position als Frau vehement biologistisch gegen Transfrauen, die körperlich keine "echten" Frauen seien. Das öffnet rechten Diskursen Tür und Tor. Rechte instrumentalisieren solche Argumente gegen alle Frauen.

Oder macht Identitätspolitik nicht eher dann Sinn, wenn dadurch gleiche Rechte erlangt werden können? Also zum Beispiel durch Frauenquoten in männlich dominierten Bereichen. Oder, ein anderes Beispiel: In Berlin hat eine Frau das Recht eingeklagt, sich oben ohne in der Öffentlichkeit zeigen zu dürfen – wie es für Männer etwa im Schwimmbad ja normal ist. Sie ist da als Frau mit weiblichen Brüsten sichtbar geworden, aber das Ergebnis ist, dass am Ende alle oben ohne sein dürfen. Also alle gleich sind. Das muss das langfristige Ziel sein. Feministische Identitätspolitik darf nur eine Brücke sein – die wir später abreißen können. (Beate Hausbichler, 23.3.2023)