Ein Wohnhaus, das angehenden Mönchen der russisch-orthodoxen Kirche als Unterkunft dient, wurde bei den Angriffen schwer beschädigt.

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Es war einer jener Momente, die Fans von Horrorfilmen schätzen: Dem Staunen der Protagonisten über ein Phänomen, das sie zuerst nicht einordnen können, folgt das Entsetzen, wenn sie merken, womit sie es zu tun haben. Kurz nach acht Uhr am Dienstagabend tauchte am Himmel über der Innenstadt von Odessa ein seltsam rot und gelb strahlendes Gebilde auf, dessen Flugbahn dem Lauf der Küste zu folgen schien. Seine Reise über das Zentrum der Schwarzmeer-Metropole dauerte keine zehn, vielleicht zwölf Sekunden. Genug, um die Menschen, die sich zu diesem Zeitpunkt auf ihren Straßen befanden, die Köpfe heben zu lassen und das Schauspiel zu bestaunen.

Vielleicht lag es daran, dass das so niedrig wie relativ langsam fliegende Objekt so hell strahlte, vielleicht daran, dass außer einem leisen Summen sonst nichts zu hören war. Aber nur die wenigsten von ihnen realisierten in diesem Moment, dass es in der nächsten halben Stunde – wieder einmal – Zeit war, Schutz in Hauseingängen, Kellern oder sonst einem Ort zu suchen, der Sicherheit versprach. Für Klarheit sorgte kurz darauf das Einsetzen des Kanonendonners der Luftabwehr, mit einer Lautstärke, die in dem Viertel rund um die Oper und das Rathaus den Boden erschütterte.

Gute Luftabwehr

Kurz nachdem sich der erste Pulverdampf gelegt hatte, füllten sich die lokalen Telegram-Kanäle: Videos wurden geteilt, die das zunächst unbekannte Flugobjekt zeigten, aber auch die Zerstörung, die es angerichtet hatte. Einer am Mittwochmorgen veröffentlichten Bilanz der regionalen Militäradministration zufolge blieb Odessa das Schlimmste erspart: vier Verletzte, aber keine Todesopfer.

Von den insgesamt vier von russischen Kampfjets vom Typ SU-35 auf die Stadt und ihre Umgebung abgefeuerten Cruise-Missiles erreichte dank der Arbeit der Luftabwehr offenbar nur eine ihr Ziel: ein Flugfeld am Stadtrand, das schon seit Kriegsbeginn Ende Februar 2022 immer wieder im Visier der russischen Streitkräfte steht. Ein benachbartes Wohnhaus, das angehenden Mönchen der russisch-orthodoxen Kirche als Unterkunft dient, wurde schwer beschädigt.

Militärischer Sinn unklar

Der militärische Sinn des Angriffs erschloss sich laut dem Urteil lokaler Analysten zunächst nicht. Einer populären Theorie zufolge wird er aber als Antwort auf eine Gemengelage interpretiert, die der russischen Logik seit Beginn der umfassenden Invasion der Ukraine folgt. In den vergangenen Wochen hatte der ukrainische Geheimdienst SBU in Odessa eine Handvoll Männer verhaftet, die der Spionage für Russland beschuldigt werden. Unter anderem wurde ein Mitarbeiter des städtischen Energieversorgungsunternehmens festgenommen, der Russlands Militär mit Informationen über die Auswahl von Zielen versorgt haben soll. Über den Winter hinweg hatten die Russen systematisch die Strom- und Wasserversorgung der Stadt angegriffen, die vor Kriegsbeginn knapp über eine Million Einwohner zählte.

Auch die offizielle Reaktion der Repräsentanten der lokalen Militäradministration ließ darauf schließen, dass die Angst vor Spionen in der Stadt in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich zugenommen hat. Ihr Sprecher Sergey Bratschuk verwies darauf, dass die ersten Videos des Angriffs auf Odessa zuerst nicht von lokalen Einwohnern, sondern von sogenannten "Milbloggern" im Dienste Russlands hochgeladen wurden, die in den lokalen Social-Media-Kanälen aktiv seien – allen voran auf der Plattform Telegram.

Wichtigster Exporthafen der Ukraine

Ein anderes Motiv, das lokale Analysten als Grund für die Angriffe nennen, liegt in der Rolle der Stadt als mit Abstand wichtigster Exporthafen der Ukraine. Der im Juli 2022 beschlossene "Getreidedeal" sorgt seitdem dafür, dass das für Menschen in vielen Ländern der Welt überlebenswichtige Getreide aus der Ukraine trotz des Krieges weiter ausgeliefert werden kann. Weil das von der Türkei und der Uno vermittelte Abkommen aber kein permanentes ist, sondern regelmäßig formal erneuert werden muss, gilt es als aus Sicht der Ukraine als wahrscheinlich, dass Russland den Druck auf Odessa erhöht, um seinen eigenen Forderungen am Verhandlungstisch mehr Nachdruck zu verleihen – allen voran denen, die es der Putin-Diktatur erlauben würden, selber mehr Getreide und Dünger zu exportieren.

Dafür spricht, dass sich in Odessa die Abstände zwischen den Luftalarmen seit dem Jahrestag des Beginns der Invasion wieder deutlich verkürzt haben. Auch wenn der Angriff vom Dienstagabend der erste schwere seit Monaten war, heulen hier seit dem 24. Februar im Schnitt wieder mindestens zweimal am Tag die Sirenen. (Klaus Stimeder aus Odessa, 22.3.2023)