Tiefgang bis unter die Haut: die Schau "Orlan – Six Decades" im Verbund.

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Influencerinnen sind ihr verhasst. Was für ein Backlash, sagt die feministische Künstlerin Orlan über online verbreitete Beautytipps. Die 1947 geborene Französin hat jahrzehntelang gegen Schönheits- und Weiblichkeitsideale aufbegehrt. Dass sie sich bei diesem Kampf selbst attraktiv und nackt inszenierte, ist einer der vielen Widersprüche ihres spannungsreichen Werks.

Hierzulande erhielt Orlan noch nie eine Soloschau. So könne sie in Österreich noch mit 75 Jahren als aufstrebende Künstlerin durchgehen, meinte sie amüsiert beim Pressetermin zu ihrer Schau Orlan – Six Decades. Anstatt eines Museums präsentiert die Sammlung Verbund die berühmte Pariserin. So verdienstvoll Retrospektive und Katalog sind, man würde dieser Pionierin doch einen besseren Präsentationsort als das Stiegenhaus des Energiekonzerns wünschen.

Eine Museumskuratorin hätte wohl Vintage Prints, frühe Abzüge von Orlans Fotoarbeiten aus den Sixties aufgehängt und nicht die 2021 auf Großformat aufgeblasenen Digitalprints. Von den fünfzig Exponaten besitzt der Verbund rund zwanzig Arbeiten.

Schluss mit passiv

Auf einem Foto von 1965 klettert die junge Tänzerin, die erst später Kunst studierte, nackt aus einem goldenen Rahmen. Sie entfloh dem passiven Platz des Aktmodells, den ihr die Malereigeschichte zuwies. Wie so viele Künstlerinnen ihrer Generation interessierte sich Orlan für die Kamera und nicht für Pinsel und Farbe, begriff ihren Körper als bildhauerisches Material anstatt Stein oder Bronze.

Sie erfand sich wie Valie Export als Kunstfigur neu und verwirrte wie ihre Wiener Kollegin die Öffentlichkeit mit offensiver Sexualität. So tauchte Orlan 1977 uneingeladen auf einer Kunstmesse in Paris auf und verkaufte dort Zungenküsse. Allein der TV-Mitschnitt der umstrittenen Aktion lohnt den Ausstellungsbesuch.

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Bei Le Baiser de l’Artiste trug Orlan ein Brustschild mit einem Foto ihres nackten Körpers; der linke Nippel leuchtete via Lämpchen. In diesen sexy Harnisch mussten Kusskäuferinnen und -käufer oben ein Fünf-Franc-Stück stecken, das dann in eine dreieckige Sammelbox zwischen den Beinen der Künstlerin rutschte.

Textile Mitgift

"Na ja, das ,Tapp- und Tastkino‘ war noch gratis", verglich ein Journalist beim Presserundgang den Auftritt Orlans mit der Aktion von Export und Peter Weibel 1969. Eine entlarvende, aber analytische Bemerkung: Während das Wiener Skandalpaar den voyeuristischen Blick durch das Angebot einer kurzen Fummelei konterkarierte, definierte die damals noch unbekannte und galerielose Orlan eine Schmusedienstleistung als ihr Werk.

Die Lektion von Marcel Duchamp, dass Kunst zwar ohne Werk, aber nie ohne Kontext auskommt, hat Orlans früh begriffen. Leider ist ihr Foto Akt die Treppe hinabsteigend – Untersicht mit Kopf, das auf den Sexismus des Surrealisten antwortet, nur im Katalog zu sehen.

Zu den Highlights der Schau zählt dafür ein Originalabzug von Gelegenheitsstriptease mit den Laken der Aussteuer. Die Fotoserie zeigt Orlan zunächst als Madonna mit Kind. Nach und nach windet sie sich aus dem faltenreichen Stoff, verwandelt sich in die Venus von Botticelli, ehe sie ganz aus dem Bild verschwindet und ihre textile Mitgift als Fetzen auf dem Boden zurücklässt. Orlan trat auch bei Live-Performances als zwischen barocker Madonna und Liebesgöttin wechselnde Figur auf.

In den 1990er-Jahren stellte sie jedoch Kostüme und Requisiten zur Seite, um buchstäblich unter die Haut zu gehen. "Fleischeskunst ist ein Selbstporträt im klassischen Sinn, jedoch mithilfe der modernen technologischen Mittel", heißt es in dem Carnal Art Manifesto, das Orlans vor ihrer radikalen Umwandlung per Skalpell formulierte.

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Die Bilder der Künstlerin im OP-Saal, wie ihr bei Bewusstsein die Wangen oder Lippen aufgeschnitten werden, gingen um die Welt. Als Schönheitsoperationen noch nicht zur "beauty routine" zählten, löste Orlan endlose Debatten aus. Blut kannte man von Hermann Nitsch und den Selbstverletzungen der Body Art, aber Chirurgenbesteck im Gesicht einer Frau mit wachem Blick, das war neu, radikal, geradezu crazy.

Anatomisches Theater

Ließ sich die Künstlerin echt nach den Frauenporträts alter Meister wie da Vinci umwandeln? Wollte sie sich tatsächlich deformieren, oder machte die Künstlerin, die damals auf ihren Fünfziger zusteuerte, nur aus der Not eine Tugend? Ein Höhepunkt von Orlans anatomischem Theater in neun Akten waren Silikonimplantate an den Schläfen. Diese monströsen Höcker schminkt sie gern mit Glitzer.

"Ich sei so schön, wird mir heute immer wieder gesagt. Dann frage ich: ,Ja haben Sie mich denn richtig angesehen?‘", erzählte die Künstlerin, die positive Resonanz auf ihr Aussehen überrascht. Orlan eroberte der Körpermodifikation einen Platz in der Kunst, der später von queeren Positionen besetzt wurde. Dass ihr "influence" voller Ambivalenzen steckt, erhält ihre Kunst vital. (Nicole Scheyerer, 22.3.2023)