Boris Johnson ist sichtlich entnervt.

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"Ein großer Tag für das Parlament": Gleich zweimal wiederholt Mister Speaker Lindsay Hoyle an diesem Mittwochnachmittag den Satz, lässt dabei aber offen, was er meint: Das Verhör eines früheren Premierministers, der im Unterhaus die Unwahrheit gesagt hat? Oder doch jene Brexit-Abstimmung, die der ersehnten Normalisierung des angespannten Verhältnisses zur EU den Weg ebnen soll?

Seit Wochen hat das politische London von wenig anderem gesprochen, um 14.03 Uhr Ortszeit ist es endlich so weit: Seinen Rechtsberater an der Seite, nimmt Boris Johnson im Grimond-Sitzungssaal des Unterhauses Platz. Ihm gegenüber sitzen im Halbrund die sieben Mitglieder des Integritätsausschusses: Sie sind damit beauftragt herauszufinden, ob der frühere Premier zu den zahlreichen Lockdown-Partys an seinem Amtssitz in der Downing Street "wissentlich oder leichtsinnig" das Unterhaus belogen hat. Hinter Johnson lauschen eine Reihe teurer Anwälte jedem Wort, die Berater des 58-Jährigen kosten die britischen Steuerzahler eine sechsstellige Summe. Unter den Zuhörern finden sich Johnsons treueste Fans, angeführt von Ex-Minister Jacob Rees-Mogg.

Schwur

Zehn Minuten vergehen mit Erläuterungen der Ausschuss-Vorsitzenden Harriet Harman (Labour), ehe der Zeuge "bei Gott" schwört, die Wahrheit zu sagen. Und schon in seinem Eingangsstatement lässt Johnson erkennen, dass er Angriff für die beste Verteidigung hält. Sein früherer Chefberater Dominic Cummings sei ein Lügner, alle Aussagen im Parlament habe er "in gutem Glauben" getätigt. Hingegen handele das Komitee "offensichtlich unfair", weil es immer nur belastende Dokumente veröffentliche. Dabei gebe es "keinerlei Beweise" für "vorsätzliche oder leichtsinnige" Lügen.

In volle Fahrt geraten, muss Johnson seine Aussage unterbrechen, weil die Parlamentsglocken zur Abstimmung rufen. Gut drei Wochen nach seiner Vereinbarung mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lässt Premier Rishi Sunak das Unterhaus über den sogenannten Windsor-Rahmen abstimmen. Dabei geht es um die Erleichterung des Handels zwischen Großbritannien und dem britischen Teil Irlands, dem im Brexit-Austrittsvertrag eine Sonderrolle zugewiesen wurde. Zudem soll den zerstrittenen Parteien Nordirlands der Weg geebnet werden, in die umstrittene Allparteienregierung in Belfast zurückzukehren.

Politische Nische

Freilich votieren sämtliche Abgeordnete der größten unionistisch-protestantischen Partei DUP ebenso gegen den Deal wie die konservativen Brexit-Ultras. Zu diesen muss sich nun auch der frühere Premier Johnson zählen lassen, ebenso wie seine Kurzzeitnachfolgerin Liz Truss. Insgesamt aber stimmen gerade einmal 29 der 650 Abgeordneten mit Nein – der populäre Wahlsieger von 2019 findet sich in der politischen Nische wieder. Und er muss auch noch ätzenden Spott ertragen: Johnson stelle nun "eine Billigversion von Nigel Farage" dar, sagt der prominente Brexiteer Steven Baker in Anspielung auf den bekannten Nationalpopulisten.

Die Anhörung im Grimond-Saal geht wenig später weiter, bis zu fünf Stunden prüften Harman sowie die sechs anderen erfahrenen Parlamentarier den Zeugen auf Herz und Nieren. Insgesamt gehören dem Ausschuss vier Konservative, zwei Labour-Leute sowie ein Abgeordneter der schottischen Nationalpartei SNP an – und die schwierigsten Fragen kamen keineswegs nur von der Opposition.

Johnsons politische Karriere steht auf dem Spiel, das wird aus der Ernsthaftigkeit deutlich, mit welcher der sonst gern als Spaßvogel auftretende Politiker die Fragen beantwortet. Der Integritätsausschuss kann Sanktionen vorschlagen, deren Absegnung durchs gesamte Parlament ist normalerweise Formsache. Die Strafen reichen von der Verpflichtung zu einer förmlichen Entschuldigung bis hin zur Suspendierung vom Hohen Haus. Sollte Johnson länger als zehn Tage ausgeschlossen bleiben, könnten die Wähler seines Westlondoner Bezirks Uxbridge eine Nachwahl beantragen.

Zweifel in der Bevölkerung

Ob Premier Sunaks gebeutelte Tory-Party das möchte? In London gibt es daran ernsthafte Zweifel, haben die seit 13 Jahren regierenden Konservativen doch in jüngster Zeit eine Nachwahl nach der anderen verloren. Vielleicht ist Sunak besser bedient mit dem Verlierer Johnson. Zumal sich das Wahlvolk, das dem weißblonden Spaßvogel 2019 einen triumphalen Wahlsieg bescherte, sich immer mehr von ihm abwendet. Zwei Drittel aller Briten glauben einer neuen Yougov-Umfrage zufolge, der damalige Premier habe das Parlament und damit auch die Öffentlichkeit wissentlich belogen. Sogar unter konservativen Parteigängern sind die Johnson-Skeptiker längst in der Mehrheit.

Auch am Mittwoch wird in Medieninterviews deutlich: Die Briten haben die zahlreichen Lockdown-Partys in der Downing Street ihrem Ex-Premier weder vergeben noch vergessen. Einer Untersuchung der Kriminalpolizei zufolge verstießen 83 Menschen gegen Corona-Vorschriften und damit gegen geltendes Recht. Zu all jenen, die Geldstrafen zahlen mussten, zählte außer Johnson selbst auch dessen Frau Carrie sowie der damalige Finanzminister Sunak. (Sebastian Borger aus London, 22.3.3023)