"Ich klage noch, dass ich nicht in den Kindergarten wolle, aber es nützt nichts, ich muss los. Ich darf mir einen ihrer Freunde aussuchen, eines ihrer Stofftiere": Clemens Berger.
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Ich muss ins Bett. Das Bett besteht aus zwei, drei Polstern, die vor das Sofa im Wohnzimmer gelegt wurden. Ich bekomme eine Flasche Milch, einen Schnuller, schließe die Augen. Kaum habe ich zu schnarchen begonnen, läutet schon der Wecker, schrill und unbarmherzig. Meine Tochter Amalia grinst über mir. Aufstehen, ruft sie, aufstehen, Daddi! Sie ist ich, und ich bin sie, das hat sie eben beschlossen. Ich klage noch, dass ich nicht in den Kindergarten wolle, dass ich lieber zu Hause bliebe, aber es nützt mir nichts, ich muss los. Ich darf mir einen Freund aussuchen, eines ihrer Stofftiere.

Sie nimmt mich bei der Hand, in der anderen halte ich den Freund, der Weg zum Kindergarten ist überschaubar, sie öffnet die Tür zu meinem Schreibzimmer, ich muss mich auf den Boden, nein, aufs Sofa setzen. Tschüss, Mali, sagt sie, spiel mit Niki und sei glücklich. Ich frage verzagt, ob sie mich auch bestimmt wieder abhole, sie antwortet: "Natürlich" und schließt die Tür. Ich muss arbeiten gehen, sagt sie zu ihrer Mutter, ins Kasperltheater.

Auf meinem Schreibtisch liegen Zettel mit Notizen, Hefte, in die ich schreibe, ein paar tragisch fragmentarische Manuskripte. Da steht der Laptop, zugeklappt. Ich blicke auf die Bibliothek, in der jene Bücher stehen, die ich in meinem Schreibzimmer wissen wollte, um mich zu beflügeln. Ein Schreibzimmer, endlich, noch dazu hell, mit wunderbarem Ausblick, nach dem Umzug im Frühjahr. Ich sehe den Drucker, der lange nichts mehr gedruckt hat, das Foto von mir an der Wand, auf dem ich nicht viel älter bin, als meine Tochter jetzt ist, an der alten Schreibmaschine meines Großvaters, die mich magisch angezogen hatte. Ich sitze auf der Couch, auf der ich liegen wollte, um zwischendurch die Augen zu schließen, für ein kurzes Nickerchen, um Kraft zu schöpfen für die nächsten Zeilen oder eine Geschichte weiterzuspinnen.

Fiktiv, aber höchst real

Abgeholt! Die Tür wird geöffnet, ich strahle und springe auf, laufe meiner noch nicht dreieinhalbjährigen Tochter, die nun mein Vater ist, entgegen, kann sie aber nicht anspringen, wie sie es tut, wenn sie sie ist und ich ich bin, sondern knie nieder, breite meine Arme aus und umarme sie. Daddidaddidaddi!, rufe ich, komm, sagt sie, zieh dich an, die Eltern kommen ja wieder. Das Anziehen funktioniert genauso wie die Flasche Milch oder der Schnuller, die ich zum Schlafen bekommen hatte; ein paar Handbewegungen, die Gegenstände sind fiktiv, aber höchst real.

Heute sind wir mit dem Auto gekommen, einem kleinen Plastikfahrzeug mit Hupe und Lenker und Stange hintendran, damit es bei Bedarf geschoben werden kann. Mir fällt der kleine Bub ein, der seit zwei Wochen zur gleichen Zeit wie meine Tochter abgeholt wird und ein Auge auf ihr Gefährt geworfen hat. Sie will ihn partout nicht damit fahren lassen, auch wenn ich es immer wieder versuche und gelegentlich an Situationen erinnere, in denen sie etwas will, das ihr andere Kinder nicht gewähren, nicht einmal für kurze Zeit. Eines Tages sagte ich seiner Mutter, jetzt sei die Gelegenheit gekommen, weil sie bereits aus dem Kindergarten draußen, ich aber erst auf dem Weg hinein war; gerade an diesem Tag waren wir in der Garderobe schneller als sonst, der Kleine saß stolz auf ihrem Auto, sie verbellte ihn, wie wir es nennen.

Dann stapft sie los

Daddi, rufe ich empört, der kleine Bub sitzt auf meinem Auto. Ah, sagt sie und fügt ein verärgertes Geräusch an: Mm! Dann stapft sie los, geht zu dem Auto, das da nicht steht und sehr wohl da steht, packt den Übeltäter und wirft ihn mit einer Hand hinunter. So, sagt sie, komm. Ich versuche, nicht zu lachen, auch nicht über mich und meine guten Absichten, sie macht nicht viel Federlesens, ist gnadenlos, und ich frage mich, ob sie mir damit zeige, wie ein Vater richtig mit einer Situation wie dieser umzugehen habe. Wir gehen zu Billa, sagt sie, ich will aber zu Spar. Bei Spar gibt es Lollies, bei Billa aber immer noch Eis. Billa, sagt sie, du bekommst heute ein Eis. Ich gehe in die Knie, immerhin sitze ich auf dem Auto, sie geht hinter mir und schiebt mich.

Gehend fahren wir zu Billa, der in ihrem Zimmer liegt, sie kauft mir ein Eis, ich bin überglücklich, aber schon müssen wir weiter, und zwar auf den Spielplatz, der in unserem Schlafzimmer liegt. Das dauert allerdings nicht allzu lange, wahrscheinlich ist eine fiktive Schaukel doch nicht das Richtige, es geht zurück ins Wohnzimmer. Essen ist nicht wichtig, das bekümmert uns Eltern manchmal, aber so ist es nun mal, ich muss wieder ins Bett. Sie liest mir noch etwas vor, die ersten Seiten von Komm, sagte der Esel von Mira Lobe, die sie auswendig kann. Der Esel wird von seinem Herrn bepackt, muss viel zu schwer tragen, bis er sich mithilfe eines anderen Esels zu wehren beginnt und sich von seinem Herrn befreit, Kisten und Kasten, Betten und Besen, Schirmen und Schüsseln und Pfannen. Und dies und das und sonst noch was, schreien wir gemeinsam. So, sagt sie, gute Nacht, Mali, schlaf schön.

Kasperltheater

Schon läutet der Wecker, schrill und unbarmherzig. Nun ist es allerdings so, dass meine Tochter bis zum Kindergarten, der einmal mein Schreibzimmer hätte sein sollen, ihr Vater ist, nach dem Abgeben aber nicht zur Arbeit ins Kasperltheater geht – wobei ich nicht darüber nachdenke, was das genau zu bedeuten habe, dass sie als ich im Kasperltheater arbeitet –, sondern sofort Moni, die Kindergärtnerin, wird. Morgenkreis, ruft sie, klatscht in die Hände, und ich muss mich in die Ecke neben die Tür setzen, genau an den Ort, den sie mir zuweist, sie singt das Morgenlied, begrüßt die anwesenden Kinder und liest von einem Zettel ab, was heute anstehe.

Ich wittere meine Chance, endlich etwas über das Leben unserer Tochter in der Gruppe zu erfahren; Amalia erzählt so gut wie nichts davon oder erfindet etwas, das wir auch simpel lügen nennen. Auf die Frage, was der Mann, der einmal in der Woche zum Englischsprechen kommt, mit ihnen gemacht habe, antwortet sie ein ums andere Mal lachend, weil sie weiß, dass wir wissen, dass nichts davon stimmt, er habe geweint, gesungen und sei in der Badewanne gesessen. Jeden Donnerstag sitzt Jules in der Badewanne, weint und singt. Nach dem Morgenkreis darf ich mit Niki spielen, aber schon singt sie "Aufräumen, aufräumen, eins, zwei, drei, das Spielen, das Spielen ist jetzt vorbei", wobei sie auf eine Trommel schlägt und mich außerordentlich streng anblickt.

Es wird gegessen. Ich sitze an meinem Schreibtisch. Da liegt tatsächlich ein Teelöffel. Meine Chance ist gekommen. Moni, rufe ich, Egon hat mich mit Joghurt beworfen. Moni ist entrüstet, Egon muss aufstehen, Moni öffnet die Tür und herrscht ihn an, er müsse draußen warten, bis er sich beruhigt habe. Dann schlägt sie krachend die Tür zu. Dasselbe passiert, wenn ich gezwickt oder geschlagen werde, mittlerweile stehen schon einige Kinder vor der Tür. Seltsamerweise muss ich als sie nicht vor die Tür, wenn ich mit dem Teelöffel Joghurt auf ein anderes Kind schieße. Selbst im Spiel ist es mir nicht möglich, das Geringste über den Speiseplan herauszufinden, wobei vor allem die Hauptspeise vom absoluten Tabu der Benennung betroffen ist.

Suppe ohne Namen

Wenn ich Amalia vom Kindergarten abhole, hat es sich eingebürgert, sie zu fragen, was es heute zu essen gegeben habe, bevor ich nachschieße, doch nicht etwa schon wieder Suppe, worauf sie Suppe sagt und meistens eine Suppe erfindet, wahrscheinlich die, die sie am liebsten essen würde, manchmal auch die vom Vortag, wenn sie einmal zur Abwechslung die Wahrheit gesagt hat; seit einiger Zeit aber findet sie es lustiger, "Suppe ohne Namen" zu sagen, weil ich einmal schallend gelacht hatte, als sie eine Suppe, die sie nicht kannte, Suppe ohne Namen genannt hatte. Es ist Mittagsschlafzeit, ich liege neben Gabi auf einer Matratze. Ich rufe, ich wolle nicht schlafen, das sei mir zu blöd; tatsächlich muss ich mich allmählich gegen die Autorität auflehnen, kann nicht alles passiv hinnehmen. Entweder habe ich die Augen zu schließen, nur ein bisschen, oder darf mit Julian draußen in der Garderobe spielen. So oder so dauert das Schläfchen nicht lange. Die Zeit danach vergeht in Windeseile. Amalia, ruft sie, abgeholt!

Der kleine Bub sitzt wieder auf dem Auto und wird wieder aus dem Auto geworfen, mit einem Wurf, der jenem ähnelt, mit dem man sich etwas Lästigen entledigt, humorlos und effizient. Ich bekomme Eis und werde darauf hingewiesen, mich glücklich schätzen zu können, weil alle anderen Kinder im Winter kein Eis bekämen, Niki zum Beispiel. Leider sind die Kühltruhen vor der Kassa längst verschwunden, aber in den Kühlregalen gibt es noch Restbestände, vor allem bei diesem einen Billa, zu dem wir Nachmittag für Nachmittag pilgern. Das Meloneneis ist aus, was äußerst schade ist, das Lustige gibt es auch nicht mehr, Twinni hingegen schon, in Hülle und Fülle.

Abneigung gegen Zahlen

An der Kassa beginne ich zu weinen. Es gelingt mir nicht so gut, wie es ihr gelungen war, als dicke Tränen ihre Wangen hinabgelaufen waren, hängende Schultern, Schluchzen, aber ich bemühe mich redlich. Was ist, Mali, sagt sie, du bekommst ja ein Eis. Ich will nicht zahlen, rufe ich, ich will nicht zahlen! – genauso, wie sie vor kurzem gerufen hatte. Während die einen gelächelt, die anderen den Kopf geschüttelt hatten, hatte ich ihr gesagt, ich wolle das eigentlich auch nicht, verstehe sie vollkommen, aber leider müsse man zahlen, vor allem wenn man wiederkommen wolle, andererseits müsse sie ohnehin nicht zahlen, weil ich es ja täte. Sie geht auf meine Abneigung dem Zahlen gegenüber mit keinem Wort ein, wir setzen uns auf die Ablage, an der Menschen ihre Einkäufe in Tragetaschen packen, und schauen zur Kassa und in den Supermarkt und stellen Überlegungen an, wie man alles, was es im Supermarkt gibt, bei uns unterbringen könne. Ich esse Eis, sie trinkt Kaffee, von dem sie noch nicht weiß, dass er Coke Zero heißt. Dann geht es weiter zum Spielplatz, bald wird das Bett bereitet sein.

Als ich nach viel zu kurzem Schlaf aufgeweckt werde und rufe, ich wolle nicht in den Kindergarten gehen – Samstag und Sonntag haben wir schon gespielt, und es war töricht von mir, anzunehmen, damit sei die Angelegenheit beendet –, weil ich nicht mehr kann und den Trott nicht länger ertrage, kann ich mit keiner Gnade rechnen. Ich bin krank, flüstere ich, mir geht’s nicht gut, ich bin sehr krank. Ich huste und keuche, sie blickt mich an, läuft in ihr Zimmer, kommt mit dem Arztkoffer zurück. Ich muss den Mund öffnen und die Zunge ausstrecken, die sie mit dem Stäbchen zu fest nach unten drückt, sie horcht mich ab, misst die Temperatur, schüttet mir Puder auf den Kopf. Du bist gesund, sagt sie, weiter geht’s. (Clemens Berger, 26.3.2023)