Anke Graneß setzt sich mit der eurozentrischen Perspektive der Philosophie auseinander. In ihrem Buch Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte erkundet sie am Beispiel Afrikas, was zum Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen führte. Sie analysiert die Auswirkungen rassistischer und patriarchalischer Strukturen sowie des Kolonialismus auf die Philosophie und stellt die Frage, wie Philosophiegeschichtsschreibung in Zukunft erfolgen könnte.

Die Philosophin und Mathematikerin Hypatia von Alexandria wird im Jahr 416 von einem Mob ermordet. Von ihren Werken ist nichts erhalten geblieben. Das Bild stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Foto: Imago/Leemage

STANDARD: Frau Graneß, man betreibe Philosophie als akademische Disziplin, als gäbe es keine Philosophie in Afrika, Asien oder Lateinamerika, schreiben Sie. Und Sie stellen fest, dass dies auch in Afrika, Südamerika und Asien gelte. Wie kommt das?

Graneß: Das ist eine Folge der europäischen Kolonisation. Durch sie wurde in allen Regionen der Welt das europäische universitäre System etabliert und damit auch die akademische europäische Philosophie. In Lateinamerika etwa, wo die Kolonisation früh erfolgte, gab es bereits im 16. Jahrhundert philosophisch-theologische Schulen und dann auch erste Universitäten nach europäischem Vorbild. Eine Ausnahme scheint China zu sein, wo die eigene philosophische Tradition stark im universitären System verwurzelt ist. In Afrika und Südamerika aber setzten erst im Prozess der Dekolonisierung oder sogar erst während der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre Bemühungen ein, sich mit der Geschichte vorkolonialer philosophischer Traditionen zu befassen.

STANDARD: Kritik an der eurozentrischen Ausrichtung der Philosophie wurde bereits in den 1970er-Jahren geäußert, auch damals gab es Ansätze, das aufzubrechen. Warum blieb es dabei?

Graneß: Mein Eindruck ist, dass solche Bemühungen in Wellen kommen. Einer meiner Lehrer war Franz Martin Wimmer, der in Wien zu den Pionieren der interkulturellen Philosophie gehörte. Ende der 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren etablierte er an der Wiener Universität einen interkulturellen Ansatz und wirkte darauf hin, dass verschiedene philosophische Traditionen in den Blick kommen und unterrichtet werden. Dies blieben allerdings vereinzelte Bemühungen. Gegenwärtig aber geschieht wieder viel. Dazu haben große antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter ebenso beigetragen wie Forderungen aus der Studentenschaft nach einer Dekolonisierung der Lehrpläne. Und auch in der Forschung gibt es Veränderungen. Seit 2019 betreiben wir in Hildesheim mit dem Reinhart-Koselleck-Projekt ein großes Forschungsvorhaben, in dem wir Philosophiegeschichten in mittlerweile über 20 Sprachen, auch außereuropäischen, gesammelt haben. So bin ich optimistisch, dass sich die interkulturelle Perspektive doch durchsetzt.

STANDARD: Den Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen verorten Sie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eben zu jener Zeit prägte Goethe den Begriff "Weltliteratur". Rückert befasste sich mit 40 Sprachen. Herder wies darauf hin, dass man von China und Japan lernen müsse. Blieb diese Öffnung ohne Einfluss auf die Philosophie?

Graneß: Es gab durchaus diese Öffnung. Herder, der auf die Vielfalt der Völker und Kulturen hinweist und sie als wichtige kreative Kraft beschreibt, ist ein gutes Beispiel. Über die Jahrhunderte hinweg bis zu jener Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren zwei Erzähltraditionen der Philosophiegeschichte vorhanden. Eine, die den Bogen von Thales bis zur deutschen klassischen Philosophie schlug, und eine, die die Vielfalt der Quellen betonte. Diese finden wir zum Beispiel schon bei Clemens von Alexandria, der die Ägypter, die Chinesen, die Äthiopier und andere Quellen nennt.

Der Umbruch erfolgt, als versucht wird, den Philosophiebegriff in Anlehnung an die Naturwissenschaften in eine wissenschaftliche Form zu bringen. Mit der Verwissenschaftlichung wird auch die Autorschaft eingeführt. Denktraditionen müssen auf einen bestimmten Autor zurückgeführt werden. Ich verwende bewusst die männliche Form, weil auch Philosophinnen ab da aus der Philosophie ausgeschlossen wurden. Weisheitliche Traditionen fielen gänzlich raus, und damit wurden außereuropäische Philosophietraditionen zunehmend aus der Philosophiegeschichte rausgeschrieben.

STANDARD: Müsste unter diesem Aspekt der rassistischen und sexistischen Ausgrenzung nicht nahezu die gesamte Philosophiegeschichte neu geschrieben werden?

Graneß: In der Tat muss die Philosophiegeschichte neu überdacht werden, sowohl hinsichtlich der Ursprünge als auch ideologischer Momente. Wenn wir die positiven Auswirkungen der Philosophie der Aufklärung hervorheben und betonen, welch bedeutende Rolle sie für die Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit sowie das neue Bild vom Individuum gespielt hat, dürfen wir nicht verleugnen, dass Philosophen auch Argumentationsgrundlagen für die Berechtigung von Kolonialismus und Sklaverei geliefert haben.

STANDARD: Eine Philosophiegeschichtsschreibung Afrikas sei nur im Rahmen eines Forschungsprojekts in der Größenordnung der Unesco Histoire générale de l’Afrique zu leisten, betonen Sie. Aber warum geschieht es nicht?

Graneß: Eine Philosophiegeschichte dieser Größenordnung gibt es auch für Europa noch nicht. Was wir im Bereich einer Weltgeschichte der Philosophie haben, ist die "Encyclopédie philosophique universelle", die Ende der 1980er-Jahre ebenfalls als Unesco-Projekt entstand. Als Standardwerk im deutschsprachigen Raum gibt es das 1863 von Friedrich Ueberweg begründete Projekt, das heute von einem großen Kollektiv weitergeführt wird. Seit einigen Jahren betreibt dieses Projekt auch eine globale Öffnung. So entstanden vier Bände zur Philosophiegeschichte der islamischen Welt, und es sind Bände zu Ostasien, China und Japan sowie auch Afrika geplant. Aber Afrika ist ein riesiger Kontinent, und für eine afrikanische Philosophiegeschichte muss noch viel Grundlagenforschung betrieben werden. Da die afrikanische Philosophie so lange negiert wurde, fanden kaum Forschungen statt.

STANDARD: Das heißt, es geht nicht darum, afrikanische Philosophiegeschichten aus afrikanischen Sprachen zu übersetzen, sondern sie müssen tatsächlich erst erarbeitet werden …

Graneß: Die Philosophiegeschichtsschreibung ist auf dem afrikanischen Kontinent noch eine junge Disziplin. Hinzu kommt, dass Afrika bei der Institutionalisierung der Disziplinen geteilt wurde in die Islamwissenschaften, die sich mit Nordafrika befassen, und die Afrikawissenschaften, die sich dem südlichen Afrika widmen. Dies führt etwa dazu, dass Forschungen zur Philosophie in der islamischen Welt an der Sahara enden. Arabisch-islamische Traditionen südlich der Sahara wie zum Beispiel die Manuskripte aus Timbuktu in Mali bleiben unberücksichtigt. Während es in arabischer Sprache Philosophiegeschichten schon aus frühen Jahrhunderten gibt, haben wir in afrikanischen Sprachen bisher keine gefunden.

STANDARD: Sie verweisen vor allem auf das Fehlen einer ungebrochenen Traditionslinie im südlichen Afrika zwischen dem fünften und 17.Jahrhundert …

Graneß: Weder die Texttraditionen noch die oralen Traditionen Afrikas wurden im Hinblick auf ihre philosophischen Gedanken oder Konzepte bisher ausreichend untersucht. Die Arbeit beginnt gerade erst. Zudem müssen methodische Überlegungen angestellt werden, ob es sinnvoll ist, die europäische Periodisierung in Antike, Neuzeit und Moderne zu übernehmen. Wir sind in Afrika mit Regionen konfrontiert, in denen die orale Traditionsvermittlung vorherrschend war. Mündlich überlieferte philosophische Konzepte einem Jahrhundert zuzuordnen, ist jedoch schwierig. Also müssen wir andere methodische Ansätze wählen als die der textzentrierten europäischen Philosophie.

Anke Graneß, "Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte". € 30,90 / 685 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023
Cover: Suhrkamp

STANDARD: Als Gegenmodell zur Linearität nennen Sie die Fraktale von Benoît Mandelbrot. Wie sähe eine Philosophiegeschichte auf der Grundlage dieses Modells aus?

Graneß: Daran muss erst gearbeitet werden. Es geht darum, die Linearität als ideologisches Prinzip aufzubrechen. Dieses Fortschrittsdenken bestimmte die letzten 250 Jahre Philosophiegeschichtsschreibung. Hegel ist dafür ein Beispiel, indem er darlegte, wie der menschliche Geist sich über verschiedene Etappen weiterentwickelte, bis er zur vollen Entfaltung kam. Diese sah er dann in seinem Denken erreicht. Viele schrieben in jener Zeit unter ähnlichen Vorzeichen Philosophiegeschichte. Wenn man allerdings die philosophischen Traditionen in anderen Regionen der Welt in den Blick nimmt, die in diese lineare Erzählung keine Aufnahme fanden, erkennt man die Sinnlosigkeit eines solchen zeitstrahlmäßigen Modells. Wir müssen in die Breite schauen, was im Laufe der Jahrhunderte auf den einzelnen Kontinenten vor sich ging, wie Theorien und Konzepte sich verbreiteten und miteinander verflochten. Was wir dann bekommen, ähnelt eher einem Netz. (Ruth Renée Reif, 25.3.2023)