Orwell, Huxley, Bradbury. Sie schrieben die großen negativ-utopischen Romane des 20. Jahrhunderts, 1984 und Schöne neue Welt und Fahrenheit 451. Ein Name fehlt, jener Jewgenij Samjatins. Dieser, 1884 geboren, machte, als Schiffsbauingenieur aus der englischen Emigration zurückgekehrt, 1917 bei der Revolution in St. Petersburg mit. War aber bereits vor 1920 mehr als ernüchtert, ja erschüttert von den mit menschenverachtender Brutalität etablierten despotischen Strukturen mit und um Lenin.

Liefert in seinem Roman die Innensicht eines immer tödlicheren Machtzentrums: der in Frankreich lebende Italo-Schweizer Giuliano da Empoli.
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Wenig später schrieb er den Roman Wir. Bekam Schreibverbot. Konnte 1931 tatsächlich, und nachdem er einen staunenswert moralisch aufrechten Brief an Stalin geschrieben hatte, infolge der Vermittlung Maxim Gorkis Russland verlassen. Sechs Jahre später erlag Samjatin in Paris einem Herzinfarkt. Wir ist noch heute, und vielleicht anno 2023 mehr denn je, eine überstarke, eine zutiefst erschreckende Vision eines totalen und totalitären Überwachungsstaates, der Individualität unterbindet, Liberalismus ausradiert – die Menschen sind nur noch Zahlen – und der eigenes, unabhängiges Denken rigoros auslöscht.

Samjatin wählt Giuliano da Empoli als zündenden Einstieg seines Romans Der Magier im Kreml. Dieser Magier, das war mehr als 15 Jahre lang Wadim Baranow. Bis er nach den Olympischen Spielen in Sotschi in der Versenkung verschwand. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Niemand weiß, ob er weiterhin als spin doctor im Hintergrund Fäden zieht und Ohrenbläser des Herrn im Kreml ist.

Bis er einen namenlosen ausländischen Forscher, der sich lieber mit Toten als mit Lebenden beschäftigt und sich in Moskauer Archiven verlustiert, digital kontaktiert, mittels eines Samjatin-Zitats. Baranow lädt den Historiker und Journalisten auf sein mittelgroßes, abgelegenes Anwesen, auf das er sich zurückgezogen hat. Und erzählt ihm in einer nachtlangen Erzählung seine und die Geschichte Russlands von Stalin bis zu Putin dem Schrecklichen.

Wochen nach dem Überfall

Der 1973 in Neuilly-sur-Seine vor den Westtoren von Paris geborene da Empoli mit schweizerisch-italienischem Familienhintergrund studierte in Florenz und Paris, war Kulturstadtrat in Florenz, Berater des sozialdemokratischen Politikers und Ministerpräsidenten Matteo Renzi, Kolumnist einiger italienischer Tageszeitungen, Radio-Talkshow-Gastgeber, da, recht telegen, ebenfalls gefragter Gesprächspartner der RAI, gründete 2016 mit Volta einen in Mailand beheimateten Thinktank, schrieb mit 23 sein erstes von bisher zwölf Sachbüchern zu Themen der Gegenwart, davon das letzte, über Spin-Doktoren des Populismus, auf Französisch. Am 14. April des letzten Jahres erschien Le mage du Kremlin bei Gallimard in Paris, sieben Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine.

Nachdem er im Herbst 2022 mit dem Grand Prix du roman de l’Académie française gekürt worden war, lieferte er sich beim noch namhafteren Prix Goncourt, Frankreichs wichtigstem, mit einem Scheck über exakt zehn Euro dotiertem Literaturpreis, eine fast endlose Jury-Auseinandersetzung über rekordverdächtige vierzehn Runden hinweg, bis Brigitte Girauds Vivre vite belorbeert wurde, ein Autofiktionsband, der eine andere Mode der Gegenwart erfolgreich bedient.

Das Innenleben Putins

In seinem literarischen Debüt weiß da Empoli gekonnt mit Zitaten und Passmustern umzugehen, vom romantischen Einstieg über den Schlüsselroman bis zur dystopischen Apokalypse, mit der der Roman pessimistisch ausklingt. Plus einer großen, in Pariser Literaturzirkeln recht beliebten Prise Misanthropie à la E. M. Cioran.

Giuliano da Empoli, "Der Magier im Kreml". Aus dem Französischen von Michaela Meißner. € 25,70 / 268 Seiten. C. H. Beck, München 2023
Cover: C. H. Beck

Gemeißelt sind die Sätze, jedoch bei genauer Lektüre von erstaunlicher Leere. Es wird hier nichts erzählt, was nicht bereits bekannt ist. Die Binnenperspektive beschert merkwürdig wenig bis nichts Neues über das Innenleben Putins wie seiner Schergen oder der Raubmilliardäre, genannt Oligarchen. Dass es Baranow, vormals TV-Regisseur, obliegt, keine Weltsicht zu propagieren, sondern dann vielmehr die intellektuelle Basis einer neuen Wirklichkeit, genannt Fake News, zu kreieren, ist auf der Hand liegend und schal.

Dramaturgisch erweist sich die Romankonstruktion als eher durchhängend und nicht wirklich logisch. Am Ende will sich nicht aufdrängen, wieso der zutiefst desillusionierte Baranow, der so viele Jahre erfolgreich im von Angstkabalen marmorierten Kreml wirkte, ausgerechnet einem Ausländer sein Herz ausschüttet, das so schwarz ist wie Samjatins Roman Wir. (Alexander Kluy, 25.3.2023)