Alexander Hoffmann (als Leonard Scheicher) und Kezia Kambazembi (als Girley Charlene Jazama): Der junge Ethnologe geht nach Deutsch-Südwestafrika und gerät mitten in die Kolonialpolitik.

Foto: Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Über den deutschen Kolonialismus vor dem Nationalsozialismus kursierte lange Zeit das Vorurteil, es hätte sich dabei um einen Pappenstiel gehandelt im Vergleich zu dem britischen Weltreich, den französischen Überseeinteressen oder den belgischen Gräueln im Kongo. Die geschichtspolitische Aufarbeitung der Verbrechen im heutigen Namibia, Kamerun oder Tansania verlief schleppend. Die populäre Kultur wies mit Einzelleistungen den Weg: Uwe Timms Roman Morenga, der 1985 von Egon Günther verfilmt wurde; oder der Roman Herero, mit dem der legendäre Comiczeichner Gerhard Seyfried sich als ambitionierter historischer Erzähler erwies.

Kontinuitäten

Der neue Film Der vermessene Mensch von Lars Kraume muss auch in dieser Tradition einer nur nach und nach zugelassenen Reflexion deutscher Verbrechen vor 1933 gesehen werden. Im Hintergrund stehen dabei immer die Diskussionen über die Singularität des Holocaust beziehungsweise die erst allmählich dringender werdende Frage, ob zwischen den verschiedenen Rassismen und Kolonialismen nicht Verbindungen und Kontinuitäten zu begreifen wären.

Constantin Film Österreich

Lars Kraume nimmt auf alle diese Debatten offenkundig Bezug, er tut dies allerdings implizit, mit einer Geschichte, die es ihm erlaubt, verschiedene Themen zugleich in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt steht bei ihm ein junger Ethnologe namens Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher). Er studiert Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin bei einem Professor von Waldstätten (Peter Simonischek), der sich auf Kraniometrie (Schädelvermessung) spezialisiert hat. Die Methode dient ihm dazu, rassistische Hypothesen über evolutionäre Unterschiede zwischen europäischen und afrikanischen Menschen zu "beweisen".

Genozidale deutsche Kolonialpolitik

Hoffmann ist von seinem Vater her in Ansätzen aufgeklärt, denn dieser hielt nichts von einer Rede von "Wilden". Im ersten Teil des Films, der in Berlin spielt, macht Hoffmann schon Erfahrungen mit dem kolonialen Anderen. Er trifft auf eine Delegation von Herero und Nama, die anlässlich einer "Völkerschau" nach Deutschland kamen. Sie werden auch gleich vermessen und sollen sich bestaunen lassen, möchten aber eigentlich den deutschen Kaiser treffen, um mit ihm über bessere Bedingungen für ihr Volk in der Heimat zu verhandeln.

Allein diese Episode schon hätte einen spannenden Film ergeben können, aber Kraume will mehr. Im zweiten Teil geht Hoffmann nach Deutsch-Südwestafrika, als Forscher, der de facto ein Anhängsel einer militärischen Operation wird. Er gerät dabei mitten in die genozidale deutsche Kolonialpolitik gegen Herero und Nama, und er wird Zeuge, wie mit Waffengewalt, aber auch durch Abriegelung des Zugangs zu Wasser viele Menschen ums Leben gebracht werden.

Spezialist für große Themen

Hoffmann dient Kraume als Thesenfigur: ein Idealist in Ansätzen, der sich aber durch die Umstände kompromittieren lässt und schließlich für seinen Forschungsgegenstand (er soll Schädel nach Berlin schicken) auch genau die religiösen Ansichten missachtet, für die er sich eigentlich interessiert.

Lars Kraume ist im deutschen Kino so etwas wie ein Spezialist für die großen Themen des 20. Jahrhunderts: Mit Der Staat gegen Fritz Bauer widmete er sich der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen (und den Verdrängungsversuchen in der jungen Bundesrepublik), in Das schweigende Klassenzimmer erzählte er von den Unterdrückungsmechanismen in der DDR. Er setzt dabei in der Regel auf ein realistisches Kino, das durch Ausstattung, Kostüm und Maske eine vergangene Epoche ungebrochen gegenwärtig machen kann.

Verbürgtes und Schaulust

Mit diesem Darstellungsoptimismus schildert er nun auch den deutschen Kolonialkrieg, den er einerseits möglichst genau entlang des historisch inzwischen Verbürgten erzählt. Zugleich achtet er aber sehr darauf, dass auch die Gesetze eines Kinos der Schaulust erfüllt werden.

So bekommen es die Deutschen in der lebensfeindlichen Landschaft zuerst einmal mit einer Schwarzen Mamba zu tun. Der kleine Spannungsmoment mit der Giftschlange ist dramaturgisch reiner Luxus und zielt ab auf unterstellte Publikumsbedürfnisse.

Mühen der politischen Korrektheit

Kraume will und kann im Grunde nur die deutsche Seite des Kriegs erzählen, die Herero und Nama werden bei ihm dadurch zu Komparserie, auch wenn er sich natürlich bemüht, zumindest einigen Figuren eine erkennbare Subjektivität zu geben. Die afrikanische Seite bleibt strukturell Kulisse. Der filmische Gegenschuss, der Blick von der anderen Seite, wird in eine unbekannte Zukunft verlegt, während Kraume sich als Leiter einer deutschen Postkolonialexpedition alle Mühen der politischen Korrektheit gibt.

Im Weltkino gibt es schon lange vielfache Bemühungen, die Logiken der Darstellung des Anderen aufzubrechen, die noch lange kolonial geblieben sind, während die Staaten in Afrika schon unabhängig waren. Der vermessene Mensch weiß von diesen Bemühungen nichts. Bei Lars Kraume ist alles eine Frage der Ausstattung, was doch eine Frage der Haltung sein müsste. (Bert Rebhandl, 25.3.2023)