Bis zu sechs Meter dick ist die Mauer rund um den Kreml. Mancherorts ragt das zinnenbewehrte, rotgetünchte Bollwerk, das einst zusätzlich durch Wassergräben befestigt war, 19 Meter hoch in den Moskauer Himmel – eine uneinnehmbare Festung am Ufer der Moskwa.

Seit 1918 wird das Riesenreich wieder vom Moskauer Kreml aus gelenkt, zuvor war 200 Jahre lang Sankt Petersburg die Hauptstadt.
Foto: AP / Alexander Zemlianichenko

Doch nicht nur baulich schottet sich Russlands Machtzentrum von jeher, so gut es geht, von der Außenwelt ab: Was in seinem Inneren passiert, soll, wenn es nach dem jeweiligen Herrscher geht, auch dort bleiben. Zu Sowjetzeiten verhalf die staatliche Geheimniskrämerei einer gänzlich neuen Gilde zur Blüte. Eine Vielzahl sogenannter Kreml-Astrologen deutete anhand scheinbar unbedeutender Details die Vorgänge hinter den Kremlmauern – und sie leiteten daraus Prognosen über Befindlichkeiten und Machtverhältnisse der oft greisen Führung ab.

Putin kündigte am Samstag an, Atomwaffen in Belarus zu stationieren
DER STANDARD

Kreml-Astrologen gefragt

Seit Russlands Präsident Wladimir Putin hinter den dicken Mauern des Kreml seinen Feldzug gegen die Ukraine orchestriert, mit Atomwaffen droht und jüngst Chinas Autokraten Xi Jinping "ewige Freundschaft" schwor, haben die Auguren der Macht abermals Hochkonjunktur. Sie fragen sich: Wie mächtig ist der russische Präsident tatsächlich? Wie hält er sein Volk ruhig? Was, wenn er stürzt? Und: Ist Putin wirklich so krank, wie man im Westen munkelt?

DER STANDARD hat bei Russlandkennern nachgefragt. Am Ende, darin sind sie sich einig, ist Putin noch lange nicht.

"Putin spielt das Spiel, das russische Herrscher immer schon gespielt haben. Sein Ziel ist es, die Öffentlichkeit zu verwirren, vor allem jene im Westen", sagt der Historiker Jörg Baberowski, der an der Berliner Humboldt-Universität vor allem die Stalinzeit erforscht. Seit Jahrzehnten erkundet er, wie Russlands Mächtige ihr Volk kleinhalten. "Putins autoritäres System beruht darauf, Beobachter im Unklaren zu lassen, wer die Macht eigentlich hat."

Mission Verwirrung

Zum Verwirrspiel zähle auch die Inszenierung interner Konflikten, jüngst etwa jenem zwischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Söldnerbande Wagner. Dieser spiele – ebenso Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow und der besonders aggressiv agitierende Ex-Präsident Dmitri Medwedew – eine klare Rolle: "Diese Leute haben nichts zu sagen, aber es wird suggeriert, dass sie wichtig sind."

Eine Revolution, die Putin hinwegfegt, ist für Baberowski nicht in Sicht. "Würde Putin gestürzt, wäre das auch ein Eingeständnis, dass das System gescheitert ist. Alle im Machtapparat hätten dann ein riesiges Legitimationsproblem."

"Wladimir Putin ist ein Diktator,
der sein eigenes Land wie eine Militärmacht besetzt hält."
Ulrich Schmid, Universität St. Gallen

Eigentlich, so Baberowski, sei der russische Staat schon seit den Zeiten Iwan des Schrecklichen in seinem Kern schwach – genau darum baue er davor eine Fassade der Stärke und der Männlichkeit auf. Das aktuelle Regime sei aber besonders unberechenbar, weil es weit mehr als früher auf eine Person zugeschnitten sei: Wladimir Wladimirowitsch Putin. "Wir wissen nicht, was nach ihm passiert. In der Sowjetzeit gab es das Zentralkomitee und das Politbüro, heute gibt es kein Verfahren, das einen Nachfolger hervorbringt. Das macht die Lage so gefährlich." Noch sei es aber längst nicht so weit. Wirklich eng werde es für Putin erst, wenn sich die Eliten reihenweise von ihm abwenden, etwa weil ihnen der Krieg persönlich nichts mehr bringt. Darum, sagt Barberowski, bediene sich Putin jenes Prinzips, mit dem Diktatoren von jeher ihre Macht zementierten: Teilen und Herrschen.

Andrej Soldatow, ein Investigativjournalist, der Moskau 2020 nach Drohungen verlassen musste und heute in London lebt, hat am eigenen Leib ein weiteres Machtinstrument des Systems Putin erlebt: Einschüchterung. "Seit etwa 2015 jagt Putin auch seinen eigenen Leuten systematisch Angst ein, im Gefängnis zu landen. Sogar Geheimdienstler fürchten sich. Darum ist es sehr schwer vorstellbar, dass sich in der Elite Widerstand gegen Putin regt."

Jede Bewegung, jedes Wort und jede Geste von Russlands Präsidenten Wladimir Putin wird im Westen und im Land selbst genau analysiert.
Foto: APA/AFP/SPUTNIK/ALEXEY NIKOLSKY

Soldatow, der seit 20 Jahren über die Machenschaften des russischen Sicherheitsapparats schreibt, wird in seiner Heimat seit Juni 2022 per Haftbefehl gesucht. An eine Rückkehr ist nicht zu denken – jedenfalls nicht, solange im Kreml Putin fest im Sattel sitzt.

Angst vor Revolution

Nach Kriegsbeginn hätten die Behörden die Schrauben nämlich noch einmal kräftig angezogen, sagt Soldatow. Die Repression in Putins Russland trifft nun auch ganz normale Menschen: "Ein Mann ist 14 Tage eingesperrt worden, weil er auf seinem Handy ein Antikriegsbild angeschaut hat. Jemand hat ihn in der U-Bahn dabei beobachtet und angezeigt."

Mit solcherlei Härte gegenüber eigentlich banalen Delikten sende das Regime ein unmissverständliches Signal an die Menschen: Widerspruch wird nicht mehr geduldet, öffentliche Proteste schon gar nicht. "Der Kreml glaubt, dass sogar drei Leute auf einer Demonstration eine Revolution auslösen könnten", sagt Soldatow. Dies rühre von einem historischen Trauma her: "Viele Leute im Sicherheitsapparat können es bis heute nicht fassen, dass damals die Sowjetunion einfach so zusammenbrechen konnte. Sie halten ihr Land für höchst fragil. Darum sehen sie hinter jedem noch so kleinen Protest einen möglichen Zündfunken."

Russland befinde sich spätestens seit Kriegsbeginn im Zustand einer inneren Besatzung, sagt auch Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Schweizer Universität St. Gallen.

Doch wie viel Macht hat der Präsident persönlich? "Der Befehl zum Krieg hat gezeigt, dass Putin durchaus mächtig genug ist, um eine so weitreichende Entscheidung zu treffen, ohne mit vielen Leuten darüber zu sprechen", sagt er. "Er braucht jetzt dringend Erfolge, weil im März 2024 Präsidentschaftswahlen geplant sind und die Führungsspitze entscheiden muss, ob sie ihn noch einmal antreten lässt."

Was muss der Nachfolger können?

Doch was, wenn nicht? Schmids Meinung zufolge müsse im Kreml zumindest ein Plan existieren, wie man Putin eine Art gesichtswahrenden Abschied bereiten – und dann einen jüngeren Technokraten an seine Stelle setzen – könnte.

Was aber braucht es für einen Putin-Erben? Schmid destilliert eine "job description": "Absicherung der Eliten, Image des Modernisierers, ideologische Verlässlichkeit." Ein Mann für alle Fälle, ein möglicher Putin-Erbe, auf den alle diese Kriterien zutreffen könnten, sei Dmitri Patruschew, Landwirtschaftsminister und Sohn des Sekretärs des Sicherheitsrats – eines Hardliners.

Opposition von außerhalb muss Putin hingegen nicht fürchten, sagt Schmid. Alexej Nawalny etwa, der im Westen seit seiner Vergiftung 2020 als Ikone des Anti-Putin-Lagers gilt, habe sich kolossal verschätzt, als er nach Russland zurückkehrte.

Anstatt eine Revolte gegen Putin auszulösen, fand sich Nawalny in Lagerhaft wieder. "Die wenigen seriösen Umfragen, die es noch gibt, weisen ihm aber nur eine Beliebtheitsrate von zwei Prozent aus. Er ist für Putin keine ernstzunehmende Bedrohung, weshalb er ihm auch die Möglichkeit lässt, vom Gefängnis aus zu kommunizieren."

Die vielen Putin-Fans in den Weiten Russlands erreicht Nawalny damit ohnehin nicht. Urbane Schichten hingegen – etwa in Moskau, wo Nawalny noch am ehesten Rückhalt hatte – habe Putin ohnehin längst verlorengegeben, sagt Schmid.

Der große Braindrain

Die Teilmobilmachung im September, bei der Putin per Befehl hunderttausende junge Männer in die Armee berief, stellt für den Kreml nun aber ein Dilemma dar. Einerseits habe er sich durch die Ausreisewelle der Kriegsgegner eines Teils der Opposition entledigt, sagt Schmid: "Jeder, der nach Kasachstan oder Georgien flüchtet, ist einer weniger, der bei Protesten in Moskau oder Sankt Petersburg mitmacht."

Andererseits habe ein großer Braindrain stattgefunden: Die jungen Leute, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, darunter viele IT-Experten, werden irgendwann einmal fehlen im System. Auch dann, wenn Putin doch gestürzt werden sollte – oder stirbt.

Den Gerüchten, wonach der starke Mann im Kreml eigentlich schwerkrank sei, will der Innsbrucker Politikwissenschafter Gerhard Mangott aber nicht so recht glauben. "Ich kann mir vorstellen, dass diese Gerüchte im Westen einem ganz bestimmten Zweck dienen. Sie sollen innerhalb der Elite Unruhe und Konflikte auslösen."

Und auch der Berliner Historiker Baberowski hält Ferndiagnosen für unangebracht: "Diese Gerüchte werden von den Geheimniskrämern hinter der Kremlmauer gestreut, um zu verwirren. Schon Stalin hat so alle im Unklaren gelassen." (Florian Niederndorfer, 27.3.2023)