ÖVP-Chef Karl Nehammer (li.) will mit Grünen-Chef Werner Kogler und dem türkis-grünen Team die gesamte Legislaturperiode bis Herbst 2024 durchregieren. Einige Grüne trauen dieser Ansage nicht ganz.

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Die SPÖ ist gerade voll mit sich selbst beschäftigt. Die Umfragewerte der ÖVP sind nicht mehr so tief im Keller, wie sie das vor nicht allzu langer Zeit noch waren. Was, wenn die Volkspartei Neuwahlgelüste packen sollten? Dieses Szenario beschäftigt aktuell nicht wenige Grüne. Innerhalb der kleinen Regierungspartei wird spekuliert, wann die ÖVP die Koalition platzen lassen könnte. Dass erst im Herbst 2024 gewählt werden soll, kommt immer mehr Abgeordneten unwahrscheinlich vor. Der Wahlkampf liege bereits in der Luft und sei auf allen Ebenen spürbar, auch in den Ausschüssen, in denen bisher die Zusammenarbeit noch gut funktioniert habe, heißt es. Eine Verhärtung der Fronten sei bemerkbar, die Kolleginnen und Kollegen der ÖVP würden spürbar auf Distanz gehen.

Zwar liegt noch kein Grund vor, aber viele Grüne trauen Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer zu, rasch einen Grund zu finden, um die Situation eskalieren zu lassen und einen Anlass für Neuwahlen zu finden. Die Gründe lägen auf der Hand: Für die ÖVP wird die Situation nicht viel besser werden, jetzt könne man die SPÖ auf dem falschen Fuß erwischen. Allerdings erscheint eine sofortige Eskalation in der Koalition unwahrscheinlich. Ein angenommenes Szenario: Nehammer findet im Herbst einen Anlass, aus der Koalition mit den Grünen auszusteigen, und setzt für das Frühjahr 2024 Neuwahlen an.

Türkis-grüne Ziellinie 2024

Nehammer selbst wies derartige Gerüchte am Sonntag zurück: "Ich habe eine Legislaturperiode fertig zu machen", sagte er in der ORF-Pressestunde und beteuerte unter Verweis auf Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler, dass Türkis-Grün noch viel vorhabe: "Unser klares Ziel ist 2024, Herbst, wie das gesetzlich vorgesehen ist." Auf mögliche zukünftige Koalitionen ließ sich der ÖVP-Chef nicht ein.

Akute Neuwahlgelüste in der Volkspartei schließen auch ÖVP-Strategen im vertraulichen Hintergrundgespräch aus. Zumal im kommenden Frühjahr für die ÖVP mit der EU-Wahl "die nächste große Geschichte" anstehe, bei der die Volkspartei – nach dem klaren Wahlsieg im Jahr 2019 – viel zu verlieren habe. Wohingegen die Chance, bei einer vorgezogenen Wahl erneut in der Regierung zu landen, mit 50 zu 50 eingeschätzt wird. An der Opposition hätten insbesondere die Landesparteiorganisationen kein Interesse. Die ÖVP sei außerdem nach mehr als dreieinhalb Jahrzehnten in der Regierung – seit 1986 – "völlig unvorbereitet für die Oppositionsrolle".

Das "kleine Hoch" nach der Kärnten-Wahl sei schon wieder verpufft, und Niederösterreich war nun auch nicht gerade Wahllust fördernd. "Ich kenne niemanden in der ÖVP, der sagen würde: Packen wir die Gelegenheit am Schopf", sagt einer aus dem Inner Circle der Volkspartei: "Es gibt kein einziges Argument für die ÖVP, früher wählen zu wollen."

Der eigentliche Matchgegner ist die FPÖ

Eine Wahl vor dem Sommer ginge sich auch rein fristentechnisch kaum noch aus, und danach werden die roten Wirren wohl irgendwie entwirrt sein. Warum sollte die ÖVP der SPÖ und ihrer neuen "Strahleperson" oder einer konsolidierten Pamela Rendi-Wagner an der Spitze den Wahlteppich ausrollen, fragt ein ÖVP-Mann. Zumal das eigentliche "Match" woanders stattfinde, nämlich mit der FPÖ. Sie und ihr Chef Herbert Kickl seien jetzt die Einzigen, die an baldigen Neuwahlen interessiert sein könnten.

Formal ist dafür ein Mehrheitsbeschluss im Parlament notwendig, ein früherer Wahltermin braucht einen Vorlauf von rund drei Monaten. Eine Sommerwahl wagt traditionellerweise niemand anzusetzen, das mögen weder Funktionärinnen und Funktionäre noch die Wählenden.

Ähnlich analysiert der Politikwissenschafter Peter Filzmaier die aktuellen Neuwahlspekulationen, die er generell unter "beliebter Volkssport" einordnet – für Parteien und Medien. Die Wählerinnen und Wähler wären viel mehr an einer arbeitenden Regierung interessiert.

Die FPÖ kann auch warten

Auch er sieht mehr Gründe gegen als für Neuwahlen. Für die ÖVP wäre ein früherer Urnengang dann attraktiv, "wenn sie sich von vornherein mit der Vizekanzlerrolle unter der FPÖ abfindet", da sich Kickl nicht darauf einlassen würde, die Schwarzen wie 2000 unter Wolfgang Schüssel vom dritten Platz aufs Kanzlerpodest zu hieven: "Kickl kann auch noch warten. Die FPÖ muss sich nicht übertrieben Sorgen machen." Als weiteres "Restrisiko" für die ÖVP bleibe in diesem Szenario der FPÖ-kritische Bundespräsident, betont Filzmaier: "Wir wissen nicht, ob Alexander Van der Bellen da mitspielt" oder komplexere Dreiervarianten ins Spiel kommen. Aus Sicht der Grünen gäbe es ohnehin keine Argumente für eine vorgezogene Wahl: "Die Wahrscheinlichkeit, auf der Oppositionsbank zu landen, ist ungleich größer, als wieder in der Regierung", sagt Filzmaier: "Letztlich beschränkt man also nur die eigene Amtszeit."

Dauerwahlkampf droht

Bleibt als Resümee, zumindest "nach strategischen Vernunftkriterien", wie der Politologe sagt: "Ich sehe keine Logik darin, jetzt Neuwahlen anzusetzen." Filzmaier erinnert: Das letzte Mal, als die ÖVP 2008 eine Schwächesituation der SPÖ ausnutzen wollte – damals war der innerparteilich ungeliebte Alfred Gusenbauer im Chefsessel – und Wilhelm Molterer "Es reicht!" sagte, endete es so: "Es hat der ÖVP-Wählerschaft gereicht – mit ihm." Zieht man taktische Spielchen und theoretische Neuwahlspekulationen ab, dann bleibt laut Filzmaier "ein versteckter Dauerwahlkampf" übrig.

Das verfassungsrechtlich vorgegebene Ablaufdatum für Türkis-Grün ist der 22. September 2024. An diesem Sonntag muss spätestens die nächste Nationalratswahl stattfinden. Bis dahin hätten ÖVP und Grüne noch Zeit, gemeinsam zu regieren. Das Motto ihres Regierungsprogramms lautet übrigens: "Aus Verantwortung für Österreich." (Lisa Nimmervoll, Michael Völker, 27.3.2023)